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Laube, Heinrich: Das junge Europa. Bd. 1, 2. Leipzig, 1833.

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derer sich neu gestalten soll; aber er sieht die halb ent¬
kleidete schmutzige Figur, er entsetzt sich davor, nennt
seinen Wunsch Frevel, verhüllt sein Gesicht und läuft
heulend von dannen. Die Metamorphose geht unter¬
deß weiter, das Bad, -- freilich oft mit Blut gefärbt,
so lange die Civilisation noch eine halbkriegerische, so¬
mit halbbarbarische ist -- wäscht die letzten Flecken ab,
die neuen Gedanken flattern als neue Kleider umher,
die neue Zeit ist vollendet und erscheint auf den Märk¬
ten; aber jener Mensch, der vorüberging, glaubt immer
noch den Schmutz unter den neuen Gewändern versteckt,
den er damals gesehen; sein Herz ist alt geworden, er
hat das Hoffen verlernt, er erkennt nicht mehr, was
schön ist, denn sein Blick ist befangen -- jener Mensch
ist der Reaktionair aus gutem Willen.

Du hast plötzlich vergessen, daß wir immitten ei¬
ner kritischen, zerstörenden, umwandelnden Epoche sind,
in drei Tagen hast Du die Metamorphose vollendet sehen
wollen -- da dieser Glaube Dich getäuscht, wie er Dich
täuschen mußte, denn nicht in einer Nacht blüht die
ganze Erde auf, läufst Du heulend und Dein Gesicht
verhüllend von dannen. Dir spukt die Tages- und
Wochengeschichte im Kopf und die Weltgeschichte Deines

II. 5

derer ſich neu geſtalten ſoll; aber er ſieht die halb ent¬
kleidete ſchmutzige Figur, er entſetzt ſich davor, nennt
ſeinen Wunſch Frevel, verhüllt ſein Geſicht und läuft
heulend von dannen. Die Metamorphoſe geht unter¬
deß weiter, das Bad, — freilich oft mit Blut gefärbt,
ſo lange die Civiliſation noch eine halbkriegeriſche, ſo¬
mit halbbarbariſche iſt — wäſcht die letzten Flecken ab,
die neuen Gedanken flattern als neue Kleider umher,
die neue Zeit iſt vollendet und erſcheint auf den Märk¬
ten; aber jener Menſch, der vorüberging, glaubt immer
noch den Schmutz unter den neuen Gewändern verſteckt,
den er damals geſehen; ſein Herz iſt alt geworden, er
hat das Hoffen verlernt, er erkennt nicht mehr, was
ſchön iſt, denn ſein Blick iſt befangen — jener Menſch
iſt der Reaktionair aus gutem Willen.

Du haſt plötzlich vergeſſen, daß wir immitten ei¬
ner kritiſchen, zerſtörenden, umwandelnden Epoche ſind,
in drei Tagen haſt Du die Metamorphoſe vollendet ſehen
wollen — da dieſer Glaube Dich getäuſcht, wie er Dich
täuſchen mußte, denn nicht in einer Nacht blüht die
ganze Erde auf, läufſt Du heulend und Dein Geſicht
verhüllend von dannen. Dir ſpukt die Tages- und
Wochengeſchichte im Kopf und die Weltgeſchichte Deines

II. 5
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[97/0109] derer ſich neu geſtalten ſoll; aber er ſieht die halb ent¬ kleidete ſchmutzige Figur, er entſetzt ſich davor, nennt ſeinen Wunſch Frevel, verhüllt ſein Geſicht und läuft heulend von dannen. Die Metamorphoſe geht unter¬ deß weiter, das Bad, — freilich oft mit Blut gefärbt, ſo lange die Civiliſation noch eine halbkriegeriſche, ſo¬ mit halbbarbariſche iſt — wäſcht die letzten Flecken ab, die neuen Gedanken flattern als neue Kleider umher, die neue Zeit iſt vollendet und erſcheint auf den Märk¬ ten; aber jener Menſch, der vorüberging, glaubt immer noch den Schmutz unter den neuen Gewändern verſteckt, den er damals geſehen; ſein Herz iſt alt geworden, er hat das Hoffen verlernt, er erkennt nicht mehr, was ſchön iſt, denn ſein Blick iſt befangen — jener Menſch iſt der Reaktionair aus gutem Willen. Du haſt plötzlich vergeſſen, daß wir immitten ei¬ ner kritiſchen, zerſtörenden, umwandelnden Epoche ſind, in drei Tagen haſt Du die Metamorphoſe vollendet ſehen wollen — da dieſer Glaube Dich getäuſcht, wie er Dich täuſchen mußte, denn nicht in einer Nacht blüht die ganze Erde auf, läufſt Du heulend und Dein Geſicht verhüllend von dannen. Dir ſpukt die Tages- und Wochengeſchichte im Kopf und die Weltgeſchichte Deines II. 5

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Zitationshilfe: Laube, Heinrich: Das junge Europa. Bd. 1, 2. Leipzig, 1833, S. 97. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/laube_europa0102_1833/109>, abgerufen am 17.05.2024.