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Laube, Heinrich: Das junge Europa. Bd. 1, 2. Leipzig, 1833.

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langen kann, daß sich unsere heutige Gesellschaft mit
einem Gesetzbuche Solons oder Lykurgs glücklich fühlen
soll, so wenig kann ich die unantastbare Stabilität ver¬
alteter Moralgesetze verlangen. Die Vorbedingungen
sind verändert, und die Folgerungen sollten noch jenen
gemäß bestehen? Alle unsere Philosophen sind leider,
nachdem man sie getauft und konfirmirt hat, in der
Väter Glauben vollkommen hineinerzogen worden; die
Wenigen, welche sich vom Autoritätseinfluße frei erhal¬
ten haben, werden überschrien von der Menge -- all'
unsere Wissenschaft ist kirchlich infizirt. Daher sind un¬
sere Moralprincipien neuerer Geburt immer nur Ab¬
drücke der früheren Platte geworden. Die sogenannten
Indifferenten haben nicht den Muth zu glauben und
nicht den zu prüfen. Dahinein gehören fast alle Leute
der höheren Bildung; daher das Geschrei der Pfaffen
über die wechselnde Gleichgültigkeit in religiösen Din¬
gen. Aus dem Mißverhältniß der Anforderungen und
Gewährleistungen entspringt sie und wird nur mit die¬
sem gehoben. Daher auch die Erscheinung, daß Leute
mit unruhigerem Blute und geringerer Geistes- und
Seelenstärke, die eines Haltpunktes bedurften, das ge¬
waltige Auseinandergehen der herrschend gewordenen Le¬

langen kann, daß ſich unſere heutige Geſellſchaft mit
einem Geſetzbuche Solons oder Lykurgs glücklich fühlen
ſoll, ſo wenig kann ich die unantaſtbare Stabilität ver¬
alteter Moralgeſetze verlangen. Die Vorbedingungen
ſind verändert, und die Folgerungen ſollten noch jenen
gemäß beſtehen? Alle unſere Philoſophen ſind leider,
nachdem man ſie getauft und konfirmirt hat, in der
Väter Glauben vollkommen hineinerzogen worden; die
Wenigen, welche ſich vom Autoritätseinfluße frei erhal¬
ten haben, werden überſchrien von der Menge — all'
unſere Wiſſenſchaft iſt kirchlich infizirt. Daher ſind un¬
ſere Moralprincipien neuerer Geburt immer nur Ab¬
drücke der früheren Platte geworden. Die ſogenannten
Indifferenten haben nicht den Muth zu glauben und
nicht den zu prüfen. Dahinein gehören faſt alle Leute
der höheren Bildung; daher das Geſchrei der Pfaffen
über die wechſelnde Gleichgültigkeit in religiöſen Din¬
gen. Aus dem Mißverhältniß der Anforderungen und
Gewährleiſtungen entſpringt ſie und wird nur mit die¬
ſem gehoben. Daher auch die Erſcheinung, daß Leute
mit unruhigerem Blute und geringerer Geiſtes- und
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[138/0150] langen kann, daß ſich unſere heutige Geſellſchaft mit einem Geſetzbuche Solons oder Lykurgs glücklich fühlen ſoll, ſo wenig kann ich die unantaſtbare Stabilität ver¬ alteter Moralgeſetze verlangen. Die Vorbedingungen ſind verändert, und die Folgerungen ſollten noch jenen gemäß beſtehen? Alle unſere Philoſophen ſind leider, nachdem man ſie getauft und konfirmirt hat, in der Väter Glauben vollkommen hineinerzogen worden; die Wenigen, welche ſich vom Autoritätseinfluße frei erhal¬ ten haben, werden überſchrien von der Menge — all' unſere Wiſſenſchaft iſt kirchlich infizirt. Daher ſind un¬ ſere Moralprincipien neuerer Geburt immer nur Ab¬ drücke der früheren Platte geworden. Die ſogenannten Indifferenten haben nicht den Muth zu glauben und nicht den zu prüfen. Dahinein gehören faſt alle Leute der höheren Bildung; daher das Geſchrei der Pfaffen über die wechſelnde Gleichgültigkeit in religiöſen Din¬ gen. Aus dem Mißverhältniß der Anforderungen und Gewährleiſtungen entſpringt ſie und wird nur mit die¬ ſem gehoben. Daher auch die Erſcheinung, daß Leute mit unruhigerem Blute und geringerer Geiſtes- und Seelenſtärke, die eines Haltpunktes bedurften, das ge¬ waltige Auseinandergehen der herrſchend gewordenen Le¬

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Zitationshilfe: Laube, Heinrich: Das junge Europa. Bd. 1, 2. Leipzig, 1833, S. 138. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/laube_europa0102_1833/150>, abgerufen am 17.05.2024.