Verachtete ich nicht die Trostlosigkeit, Freund, ich wäre trostlos. Haßte ich nicht die Reue, diese Schul¬ denmacherin bei der Zukunft, die unnützerweise Geld für die Vergangenheit leiht, ich finge an Manches zu bereuen.
Ich trete in den Speisesaal und setze mich. Ein leiser Schrei meiner Nachbarin läßt mich genau in das halbverhüllte Gesicht sehen -- es ist Julia, die auf¬ stehen und davon eilen will. Ich fasse krampfhaft ihre Hand und halte sie fest, sie kann nicht fort, ohne gro¬ ßes Aufsehen vor der zahlreichen Gesellschaft zu verur¬ sachen. Der Himmel weiß, was ich ihr in Gluth und Wuth der Liebe Alles zuflüsterte, sie bebte wie ein Es¬ penblatt, ihre Brust schlug hoch, das Gesicht brannte in Schaam und Feuer. Da fielen ihre weinenden Au¬ gen wie fußfällig in die meinen, sie bat, wie eine Sün¬ derin ihren Beichtiger um Hoffnung für die Seligkeit bitten mag, ich möge sie lassen. Noch eh' ich zu etwas entschlossen war, erstarrte ihre Hand in der meinen, sie
35. Hyppolit an Valerius.
Wien, im September.
Verachtete ich nicht die Troſtloſigkeit, Freund, ich wäre troſtlos. Haßte ich nicht die Reue, dieſe Schul¬ denmacherin bei der Zukunft, die unnützerweiſe Geld für die Vergangenheit leiht, ich finge an Manches zu bereuen.
Ich trete in den Speiſeſaal und ſetze mich. Ein leiſer Schrei meiner Nachbarin läßt mich genau in das halbverhüllte Geſicht ſehen — es iſt Julia, die auf¬ ſtehen und davon eilen will. Ich faſſe krampfhaft ihre Hand und halte ſie feſt, ſie kann nicht fort, ohne gro¬ ßes Aufſehen vor der zahlreichen Geſellſchaft zu verur¬ ſachen. Der Himmel weiß, was ich ihr in Gluth und Wuth der Liebe Alles zuflüſterte, ſie bebte wie ein Es¬ penblatt, ihre Bruſt ſchlug hoch, das Geſicht brannte in Schaam und Feuer. Da fielen ihre weinenden Au¬ gen wie fußfällig in die meinen, ſie bat, wie eine Sün¬ derin ihren Beichtiger um Hoffnung für die Seligkeit bitten mag, ich möge ſie laſſen. Noch eh' ich zu etwas entſchloſſen war, erſtarrte ihre Hand in der meinen, ſie
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35.
Hyppolit an Valerius.
Wien, im September.
Verachtete ich nicht die Troſtloſigkeit, Freund, ich
wäre troſtlos. Haßte ich nicht die Reue, dieſe Schul¬
denmacherin bei der Zukunft, die unnützerweiſe Geld
für die Vergangenheit leiht, ich finge an Manches
zu bereuen.
Ich trete in den Speiſeſaal und ſetze mich. Ein
leiſer Schrei meiner Nachbarin läßt mich genau in das
halbverhüllte Geſicht ſehen — es iſt Julia, die auf¬
ſtehen und davon eilen will. Ich faſſe krampfhaft ihre
Hand und halte ſie feſt, ſie kann nicht fort, ohne gro¬
ßes Aufſehen vor der zahlreichen Geſellſchaft zu verur¬
ſachen. Der Himmel weiß, was ich ihr in Gluth und
Wuth der Liebe Alles zuflüſterte, ſie bebte wie ein Es¬
penblatt, ihre Bruſt ſchlug hoch, das Geſicht brannte
in Schaam und Feuer. Da fielen ihre weinenden Au¬
gen wie fußfällig in die meinen, ſie bat, wie eine Sün¬
derin ihren Beichtiger um Hoffnung für die Seligkeit
bitten mag, ich möge ſie laſſen. Noch eh' ich zu etwas
entſchloſſen war, erſtarrte ihre Hand in der meinen, ſie
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Laube, Heinrich: Das junge Europa. Bd. 1, 2. Leipzig, 1833, S. 143. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/laube_europa0102_1833/155>, abgerufen am 25.02.2025.
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