"Wenn ich die gewöhnliche Treue tadle, rede ich nicht der jämmerlichen Lüderlichkeit das Wort, die in grauenvollem Egoismus nur ihren Lüsten nachjagt, mag aus den Opfern derselben werden, was da will. Löse ich nicht den Bestand aller Dinge auf, wenn ich den zuverlässigen Glauben auf ihre unwandelbare Stetigkeit hinwegreiße? Sind denn so viele Jahrhunderte im Jrrthume gewesen, welche die Treue zu einer Tugend erhoben haben?"
"Aber war nicht die rohe Tapferkeit, der grau- same blutdürstige Fanatismus einst auch eine Tu- gend? Kann die Welt von der Stelle rücken, wenn sich die Gesellschaft fortwährend in denselben Gedan- ken herumbewegt? Jst es nicht eine förmliche Mord- anstalt, jene schwindsüchtige Treue, welche über ihren eignen Tod hinaus zu bestehen trachtet? Das Jnteresse, der Reiz, die leiseste Hoffnung von Glück ist oft verschwunden, wenn die Leute ein altes Ver- sprechen einlösen; beide Theile fühlen es, beide wa- gen es nicht zu äußern, um den Popanz der Treue nicht zu verletzen, beide stürzen sich mit offnen Augen in's Verderben. Das täglich wechselnde Leben, der Reiz, welcher fröhlich vor ihre Augen tritt, predigt
„Wenn ich die gewöhnliche Treue tadle, rede ich nicht der jämmerlichen Lüderlichkeit das Wort, die in grauenvollem Egoismus nur ihren Lüſten nachjagt, mag aus den Opfern derſelben werden, was da will. Löſe ich nicht den Beſtand aller Dinge auf, wenn ich den zuverläſſigen Glauben auf ihre unwandelbare Stetigkeit hinwegreiße? Sind denn ſo viele Jahrhunderte im Jrrthume geweſen, welche die Treue zu einer Tugend erhoben haben?“
„Aber war nicht die rohe Tapferkeit, der grau- ſame blutdürſtige Fanatismus einſt auch eine Tu- gend? Kann die Welt von der Stelle rücken, wenn ſich die Geſellſchaft fortwährend in denſelben Gedan- ken herumbewegt? Jſt es nicht eine förmliche Mord- anſtalt, jene ſchwindſüchtige Treue, welche über ihren eignen Tod hinaus zu beſtehen trachtet? Das Jntereſſe, der Reiz, die leiſeſte Hoffnung von Glück iſt oft verſchwunden, wenn die Leute ein altes Ver- ſprechen einlöſen; beide Theile fühlen es, beide wa- gen es nicht zu äußern, um den Popanz der Treue nicht zu verletzen, beide ſtürzen ſich mit offnen Augen in’s Verderben. Das täglich wechſelnde Leben, der Reiz, welcher fröhlich vor ihre Augen tritt, predigt
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„Wenn ich die gewöhnliche Treue tadle, rede
ich nicht der jämmerlichen Lüderlichkeit das Wort,
die in grauenvollem Egoismus nur ihren Lüſten
nachjagt, mag aus den Opfern derſelben werden,
was da will. Löſe ich nicht den Beſtand aller
Dinge auf, wenn ich den zuverläſſigen Glauben
auf ihre unwandelbare Stetigkeit hinwegreiße? Sind
denn ſo viele Jahrhunderte im Jrrthume geweſen,
welche die Treue zu einer Tugend erhoben haben?“
„Aber war nicht die rohe Tapferkeit, der grau-
ſame blutdürſtige Fanatismus einſt auch eine Tu-
gend? Kann die Welt von der Stelle rücken, wenn
ſich die Geſellſchaft fortwährend in denſelben Gedan-
ken herumbewegt? Jſt es nicht eine förmliche Mord-
anſtalt, jene ſchwindſüchtige Treue, welche über
ihren eignen Tod hinaus zu beſtehen trachtet? Das
Jntereſſe, der Reiz, die leiſeſte Hoffnung von Glück
iſt oft verſchwunden, wenn die Leute ein altes Ver-
ſprechen einlöſen; beide Theile fühlen es, beide wa-
gen es nicht zu äußern, um den Popanz der Treue
nicht zu verletzen, beide ſtürzen ſich mit offnen Augen
in’s Verderben. Das täglich wechſelnde Leben, der
Reiz, welcher fröhlich vor ihre Augen tritt, predigt
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Laube, Heinrich: Das junge Europa. Bd. 2, 1. Mannheim, 1837, S. 197. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/laube_europa0201_1837/207>, abgerufen am 19.05.2024.
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