ich vielmehr: -- Wohl dem, der ihrer noch em- pfänglich ist! Sie sind für die sittliche Heilkunde das, was der Schmerz einer Wunde für die körperliche ist. Dieser verrätht einen widernatürlichen Zustand, und fodert uns durch seinen wehen Eindruck auf, daß wir suchen ihn zu heben. Ohne seine zweckmäßige Einwirkung würde die Wunde um sich greifen, und endlich Unheilbarkeit und Tod nach sich ziehen. So auch Krankheiten der Seele! Für Misempfindung, für Misklang, für Disharmonie sind wir nicht: Seelen-Töne von der Art sind unangenehm, zumal wenn sie selbst verschuldet sind, anhalten und in Harmonie sich nicht auflösen. Und dies ist nicht Kunst, nicht Folge der Erziehung: es ist allgemein, es ist Natur hier, wie da beim Schmerz, wenig- stens Grundlage der Natur, die nach Organisation, Geblüt, Clima, Nahrung, Umgang, Beispiel, Er- ziehung, Unterricht, Leserei, Religion, Regierung, und wie die physischen und moralischen Bestimmun- gen alle heißen, von denen die Begründung, Ent- wickelung und Richtung der Charaktere der Menschen- kinder abhängt, freilich unendlicher Modifikationen empfänglich, aber vom höchsten Ideal der Natur -- der gröbern und feinern - als Substrat einer jeden richtigen Vervollständigung ihrer Individuen einge- richtet ist. Hebt man diesen Zweck aus der Natur heraus, so gäbe es einen wichtigen Grund ohne eine
ich vielmehr: — Wohl dem, der ihrer noch em- pfaͤnglich iſt! Sie ſind fuͤr die ſittliche Heilkunde das, was der Schmerz einer Wunde fuͤr die koͤrperliche iſt. Dieſer verraͤtht einen widernatuͤrlichen Zuſtand, und fodert uns durch ſeinen wehen Eindruck auf, daß wir ſuchen ihn zu heben. Ohne ſeine zweckmaͤßige Einwirkung wuͤrde die Wunde um ſich greifen, und endlich Unheilbarkeit und Tod nach ſich ziehen. So auch Krankheiten der Seele! Fuͤr Misempfindung, fuͤr Misklang, fuͤr Disharmonie ſind wir nicht: Seelen-Toͤne von der Art ſind unangenehm, zumal wenn ſie ſelbſt verſchuldet ſind, anhalten und in Harmonie ſich nicht aufloͤſen. Und dies iſt nicht Kunſt, nicht Folge der Erziehung: es iſt allgemein, es iſt Natur hier, wie da beim Schmerz, wenig- ſtens Grundlage der Natur, die nach Organiſation, Gebluͤt, Clima, Nahrung, Umgang, Beiſpiel, Er- ziehung, Unterricht, Leſerei, Religion, Regierung, und wie die phyſiſchen und moraliſchen Beſtimmun- gen alle heißen, von denen die Begruͤndung, Ent- wickelung und Richtung der Charaktere der Menſchen- kinder abhaͤngt, freilich unendlicher Modifikationen empfaͤnglich, aber vom hoͤchſten Ideal der Natur — der groͤbern und feinern – als Subſtrat einer jeden richtigen Vervollſtaͤndigung ihrer Individuen einge- richtet iſt. Hebt man dieſen Zweck aus der Natur heraus, ſo gaͤbe es einen wichtigen Grund ohne eine
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[477[479]/0481]
ich vielmehr: — Wohl dem, der ihrer noch em-
pfaͤnglich iſt! Sie ſind fuͤr die ſittliche Heilkunde das,
was der Schmerz einer Wunde fuͤr die koͤrperliche
iſt. Dieſer verraͤtht einen widernatuͤrlichen Zuſtand,
und fodert uns durch ſeinen wehen Eindruck auf, daß
wir ſuchen ihn zu heben. Ohne ſeine zweckmaͤßige
Einwirkung wuͤrde die Wunde um ſich greifen, und
endlich Unheilbarkeit und Tod nach ſich ziehen. So
auch Krankheiten der Seele! Fuͤr Misempfindung,
fuͤr Misklang, fuͤr Disharmonie ſind wir nicht:
Seelen-Toͤne von der Art ſind unangenehm, zumal
wenn ſie ſelbſt verſchuldet ſind, anhalten und in
Harmonie ſich nicht aufloͤſen. Und dies iſt nicht
Kunſt, nicht Folge der Erziehung: es iſt allgemein,
es iſt Natur hier, wie da beim Schmerz, wenig-
ſtens Grundlage der Natur, die nach Organiſation,
Gebluͤt, Clima, Nahrung, Umgang, Beiſpiel, Er-
ziehung, Unterricht, Leſerei, Religion, Regierung,
und wie die phyſiſchen und moraliſchen Beſtimmun-
gen alle heißen, von denen die Begruͤndung, Ent-
wickelung und Richtung der Charaktere der Menſchen-
kinder abhaͤngt, freilich unendlicher Modifikationen
empfaͤnglich, aber vom hoͤchſten Ideal der Natur —
der groͤbern und feinern – als Subſtrat einer jeden
richtigen Vervollſtaͤndigung ihrer Individuen einge-
richtet iſt. Hebt man dieſen Zweck aus der Natur
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Laukhard, Friedrich Christian: F. C. Laukhards Leben und Schicksale. Bd. 2. Halle, 1792, S. 477[479]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/laukhard_leben02_1792/481>, abgerufen am 21.11.2024.
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