Man hat in andern Ländern herumgeschrieen: die Franzosen hätten eine neuheidnische Religion an- genommen: das ist eine tolle Behauptung! Man be- denke doch, daß in dem Religions-Dekrete ganz und gar keine Rede von irgend einem Lehrbegriffe vor- kömmt, und daß einem jeden es frey steht, seinen lie- ben Gott, und das Verhältniß, worin er mit ihm zu stehen meynt, so einzurichten, wie er will, und wie es ihm gut dünkt. Will jemand in Frankreich den Jupiter und die Venus für wirkliche We- sen, für Gottheiten halten, so mag er es thun: aber einen öffentlichen Gottesdienst für Jupiter und Venus darf er nicht aufbringen.
Alle Erkenntniß der Wahrheit kann nur nach und nach stufenweise kommen. Erst muß der ne- gative Weg gegangen werden, zumal bey einmal Verwöhnten. Man muß erkennen, daß das, was man bisher als Wahrheit annahm, sie nicht war. Dann schreitet man zum positiven, forscht nach, was und wie das denn ist, von dem wir erkennen, daß es das nicht ist, wofür wir bisher es nahmen. D[e]n negativen Weg schlug man in Frankreich ein, indem man das römische Hierarchie-System als falsch und schädlich in den Klubs erklärte, und es endlich, nach vorhergegangner besserer Beleh- rung, öffentlich abschaffte. Darauf ging man -- wir wissen schon, wann und wie -- den posi-
Man hat in andern Laͤndern herumgeſchrieen: die Franzoſen haͤtten eine neuheidniſche Religion an- genommen: das iſt eine tolle Behauptung! Man be- denke doch, daß in dem Religions-Dekrete ganz und gar keine Rede von irgend einem Lehrbegriffe vor- koͤmmt, und daß einem jeden es frey ſteht, ſeinen lie- ben Gott, und das Verhaͤltniß, worin er mit ihm zu ſtehen meynt, ſo einzurichten, wie er will, und wie es ihm gut duͤnkt. Will jemand in Frankreich den Jupiter und die Venus fuͤr wirkliche We- ſen, fuͤr Gottheiten halten, ſo mag er es thun: aber einen oͤffentlichen Gottesdienſt fuͤr Jupiter und Venus darf er nicht aufbringen.
Alle Erkenntniß der Wahrheit kann nur nach und nach ſtufenweiſe kommen. Erſt muß der ne- gative Weg gegangen werden, zumal bey einmal Verwoͤhnten. Man muß erkennen, daß das, was man bisher als Wahrheit annahm, ſie nicht war. Dann ſchreitet man zum poſitiven, forſcht nach, was und wie das denn iſt, von dem wir erkennen, daß es das nicht iſt, wofuͤr wir bisher es nahmen. D[e]n negativen Weg ſchlug man in Frankreich ein, indem man das roͤmiſche Hierarchie-Syſtem als falſch und ſchaͤdlich in den Klubs erklaͤrte, und es endlich, nach vorhergegangner beſſerer Beleh- rung, oͤffentlich abſchaffte. Darauf ging man — wir wiſſen ſchon, wann und wie — den poſi-
<TEI><text><body><divn="1"><pbfacs="#f0304"n="300"/><p>Man hat in andern Laͤndern herumgeſchrieen:<lb/>
die Franzoſen haͤtten eine neuheidniſche Religion an-<lb/>
genommen: das iſt eine tolle Behauptung! Man be-<lb/>
denke doch, daß in dem Religions-Dekrete ganz und<lb/>
gar keine Rede von irgend einem Lehrbegriffe vor-<lb/>
koͤmmt, und daß einem jeden es frey ſteht, ſeinen lie-<lb/>
ben Gott, und das Verhaͤltniß, worin er mit ihm<lb/>
zu ſtehen meynt, ſo einzurichten, wie er will, und<lb/>
wie es ihm gut duͤnkt. Will jemand in Frankreich<lb/>
den <hirendition="#g">Jupiter</hi> und die <hirendition="#g">Venus</hi> fuͤr wirkliche We-<lb/>ſen, fuͤr Gottheiten halten, ſo mag er es thun:<lb/>
aber einen oͤffentlichen Gottesdienſt fuͤr Jupiter<lb/>
und Venus darf er nicht aufbringen.</p><lb/><p>Alle Erkenntniß der Wahrheit kann nur nach<lb/>
und nach ſtufenweiſe kommen. Erſt muß der ne-<lb/>
gative Weg gegangen werden, zumal bey einmal<lb/>
Verwoͤhnten. Man muß erkennen, daß das, was<lb/>
man bisher als Wahrheit annahm, ſie nicht war.<lb/>
Dann ſchreitet man zum poſitiven, forſcht nach,<lb/>
was und wie das denn iſt, von dem wir erkennen,<lb/>
daß es das nicht iſt, wofuͤr wir bisher es nahmen.<lb/>
D<supplied>e</supplied>n negativen Weg ſchlug man in Frankreich ein,<lb/>
indem man das roͤmiſche Hierarchie-Syſtem als<lb/>
falſch und ſchaͤdlich in den Klubs erklaͤrte, und<lb/>
es endlich, nach vorhergegangner beſſerer Beleh-<lb/>
rung, oͤffentlich abſchaffte. Darauf ging man<lb/>— wir wiſſen ſchon, wann und wie — den poſi-<lb/></p></div></body></text></TEI>
[300/0304]
Man hat in andern Laͤndern herumgeſchrieen:
die Franzoſen haͤtten eine neuheidniſche Religion an-
genommen: das iſt eine tolle Behauptung! Man be-
denke doch, daß in dem Religions-Dekrete ganz und
gar keine Rede von irgend einem Lehrbegriffe vor-
koͤmmt, und daß einem jeden es frey ſteht, ſeinen lie-
ben Gott, und das Verhaͤltniß, worin er mit ihm
zu ſtehen meynt, ſo einzurichten, wie er will, und
wie es ihm gut duͤnkt. Will jemand in Frankreich
den Jupiter und die Venus fuͤr wirkliche We-
ſen, fuͤr Gottheiten halten, ſo mag er es thun:
aber einen oͤffentlichen Gottesdienſt fuͤr Jupiter
und Venus darf er nicht aufbringen.
Alle Erkenntniß der Wahrheit kann nur nach
und nach ſtufenweiſe kommen. Erſt muß der ne-
gative Weg gegangen werden, zumal bey einmal
Verwoͤhnten. Man muß erkennen, daß das, was
man bisher als Wahrheit annahm, ſie nicht war.
Dann ſchreitet man zum poſitiven, forſcht nach,
was und wie das denn iſt, von dem wir erkennen,
daß es das nicht iſt, wofuͤr wir bisher es nahmen.
Den negativen Weg ſchlug man in Frankreich ein,
indem man das roͤmiſche Hierarchie-Syſtem als
falſch und ſchaͤdlich in den Klubs erklaͤrte, und
es endlich, nach vorhergegangner beſſerer Beleh-
rung, oͤffentlich abſchaffte. Darauf ging man
— wir wiſſen ſchon, wann und wie — den poſi-
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Laukhard, Friedrich Christian: F. C. Laukhards Leben und Schicksale. Bd. 4,1. Leipzig, 1797, S. 300. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/laukhard_leben0401_1797/304>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.