Lavater, Johann Caspar: Betrachtungen über die wichtigsten Stellen der Evangelien. Bd. 1: Matthäus und Markus. Dessau/Leipzig, 1783.Macht und Erbarmen Jesus. und das gewiß nicht bloß den hundert und tausend ein-zelen Persohnen, die Jesus heilete, allein und ausschlies- sender Weise zu lieb -- wiewohl diese unwidersprechlich der nächste, unmittelbarste Gegenstand seiner einfältigen, gerade vor sich zielenden Erbarmung und rettenden Macht waren. Alle Aeusserungen seiner allgenugsamen Helfers- kraft waren nur Strahlen einer sich immer gleich uner- schöpflichen, von Ewigkeit zu Ewigkeit leuchtenden Sonne. Was der gemeinste Mensch hundertmahl kann, das kann er zehentausendmahl. Hat ein Arzt ein entscheidendes Mittel, das hundert Kranken von dieser, jener bestimm- ten Krankheit half -- So hilft das Mittel hunderttau sen- den, deren Krankheit der Krankheit der hundert gleich ist. Es verhält sich so mit allem, was der Mensch kann -- vom Buchstabiren, Lesen, Schreiben an bis auf das, was man die höchste Wunderkraft nennen würde. Wie mit der Kraft, so mit der Liebe, dem Wohlwollen, der Barm- herzigkeit. Nicht nur die bestimmten vor uns stehenden Gegenstände, nicht diese allein und mehr nicht, sind es, die ein barmherziges Wohlwollen umfassen kann -- So viel sich ihm darstellen, so viele kann es erquicken und segnen. Der wahrhaft Barmherzige ist barmherzig ge- nug, der wahrhaft Mächtige mächtig genug für alle, die Ihn anrufen. Es ist das unweiseste, was gethan wer- den kann, einem Kranken von einem Arzt erzählen, der zwanzig und dreyßig Kranke von seiner Art geheilet ha- ben soll -- noch am Leben sey, noch dasselbe Mitleiden, dieselbe Wissenschaft und Kraft besitzen soll, alle zu sich einladen soll -- wenn das gerade den Kranken, dem es erzählt
Macht und Erbarmen Jeſus. und das gewiß nicht bloß den hundert und tauſend ein-zelen Perſohnen, die Jeſus heilete, allein und ausſchlieſ- ſender Weiſe zu lieb — wiewohl dieſe unwiderſprechlich der nächſte, unmittelbarſte Gegenſtand ſeiner einfältigen, gerade vor ſich zielenden Erbarmung und rettenden Macht waren. Alle Aeuſſerungen ſeiner allgenugſamen Helfers- kraft waren nur Strahlen einer ſich immer gleich uner- ſchöpflichen, von Ewigkeit zu Ewigkeit leuchtenden Sonne. Was der gemeinſte Menſch hundertmahl kann, das kann er zehentauſendmahl. Hat ein Arzt ein entſcheidendes Mittel, das hundert Kranken von dieſer, jener beſtimm- ten Krankheit half — So hilft das Mittel hunderttau ſen- den, deren Krankheit der Krankheit der hundert gleich iſt. Es verhält ſich ſo mit allem, was der Menſch kann — vom Buchſtabiren, Leſen, Schreiben an bis auf das, was man die höchſte Wunderkraft nennen würde. Wie mit der Kraft, ſo mit der Liebe, dem Wohlwollen, der Barm- herzigkeit. Nicht nur die beſtimmten vor uns ſtehenden Gegenſtände, nicht dieſe allein und mehr nicht, ſind es, die ein barmherziges Wohlwollen umfaſſen kann — So viel ſich ihm darſtellen, ſo viele kann es erquicken und ſegnen. Der wahrhaft Barmherzige iſt barmherzig ge- nug, der wahrhaft Mächtige mächtig genug für alle, die Ihn anrufen. Es iſt das unweiſeſte, was gethan wer- den kann, einem Kranken von einem Arzt erzählen, der zwanzig und dreyßig Kranke von ſeiner Art geheilet ha- ben ſoll — noch am Leben ſey, noch daſſelbe Mitleiden, dieſelbe Wiſſenſchaft und Kraft beſitzen ſoll, alle zu ſich einladen ſoll — wenn das gerade den Kranken, dem es erzählt
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Macht und Erbarmen Jeſus.
und das gewiß nicht bloß den hundert und tauſend ein-
zelen Perſohnen, die Jeſus heilete, allein und ausſchlieſ-
ſender Weiſe zu lieb — wiewohl dieſe unwiderſprechlich
der nächſte, unmittelbarſte Gegenſtand ſeiner einfältigen,
gerade vor ſich zielenden Erbarmung und rettenden Macht
waren. Alle Aeuſſerungen ſeiner allgenugſamen Helfers-
kraft waren nur Strahlen einer ſich immer gleich uner-
ſchöpflichen, von Ewigkeit zu Ewigkeit leuchtenden Sonne.
Was der gemeinſte Menſch hundertmahl kann, das kann
er zehentauſendmahl. Hat ein Arzt ein entſcheidendes
Mittel, das hundert Kranken von dieſer, jener beſtimm-
ten Krankheit half — So hilft das Mittel hunderttau ſen-
den, deren Krankheit der Krankheit der hundert gleich iſt.
Es verhält ſich ſo mit allem, was der Menſch kann —
vom Buchſtabiren, Leſen, Schreiben an bis auf das, was
man die höchſte Wunderkraft nennen würde. Wie mit
der Kraft, ſo mit der Liebe, dem Wohlwollen, der Barm-
herzigkeit. Nicht nur die beſtimmten vor uns ſtehenden
Gegenſtände, nicht dieſe allein und mehr nicht, ſind es,
die ein barmherziges Wohlwollen umfaſſen kann — So
viel ſich ihm darſtellen, ſo viele kann es erquicken und
ſegnen. Der wahrhaft Barmherzige iſt barmherzig ge-
nug, der wahrhaft Mächtige mächtig genug für alle, die
Ihn anrufen. Es iſt das unweiſeſte, was gethan wer-
den kann, einem Kranken von einem Arzt erzählen, der
zwanzig und dreyßig Kranke von ſeiner Art geheilet ha-
ben ſoll — noch am Leben ſey, noch daſſelbe Mitleiden,
dieſelbe Wiſſenſchaft und Kraft beſitzen ſoll, alle zu ſich
einladen ſoll — wenn das gerade den Kranken, dem es
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