Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Lavater, Johann Caspar: Betrachtungen über die wichtigsten Stellen der Evangelien. Bd. 1: Matthäus und Markus. Dessau/Leipzig, 1783.

Bild:
<< vorherige Seite

Matthäus XXI.
euer Vater, der in den Himmeln ist, verzeihe. Wenn
ihr aber nicht verzeihet; So wird auch euer Va-
ter, der in den Himmeln ist, euere Fehler nicht ver-
zeihen.
Und nun noch, ehe wir zu den Anmerkungen
Luc.
XVII. 5. 6.
selbst kommen, eine Parallelstelle: Die Apostel sprachen
zum Herrn: Herr! Mehre uns den Glauben; Der
Herr aber sprach: Wenn ihr Glauben hättet wie
ein Senfkorn, so werdet ihr zu diesem Maulbeer-
baum sagen: Reiß dich aus der Wurzel und ver-
setze dich ins Meer: So würde er euch gehor-
sam seyn.

Was follen Christen über diese Stelle für Betrach-
tungen machen? Was sollen sie für ihren Verstand und
ihr Herz daraus schöpfen? -- Euch Christen meyn' ich
mit Nathanaels Seelen -- voll Daubeneinfalt und Kin-
dersinns! -- Wie wir immer diese Stellen nehmen mö-
gen -- Buchstäblich oder sinnbildlich, wir werden
etwas sagen müssen, was der Geist unsers Glaubenhas-
senden Zeitalters aneckeln oder bespötteln wird. Sehen
wir diese Verdorrung eines fruchtlosen Feigenbaums,
von dem Jesus Frucht suchte, weil es noch nicht der
Feigen Zeit, das kann heissen, die Pflückzeit war, die
Feigenlese noch nicht vorbey war -- bloß als eine (sym-
bolische oder) sinnbildliche Handlung unsers Herrn an
-- wodurch Er das unausbleibliche Schicksal fruchtlä-
rer und Thatenloser Menschen uns sinnlich darstellen und
ans Herz legen will; -- So werden vielleicht einige
darüber als eine mystische (geheimnißsuchende) Deutung
lachen. Nehmen wir's aber buchstäblich, und führen
diese Geschichte als ein Beyspiel von der Kraft des Glau-

bens

Matthäus XXI.
euer Vater, der in den Himmeln iſt, verzeihe. Wenn
ihr aber nicht verzeihet; So wird auch euer Va-
ter, der in den Himmeln iſt, euere Fehler nicht ver-
zeihen.
Und nun noch, ehe wir zu den Anmerkungen
Luc.
XVII. 5. 6.
ſelbſt kommen, eine Parallelſtelle: Die Apoſtel ſprachen
zum Herrn: Herr! Mehre uns den Glauben; Der
Herr aber ſprach: Wenn ihr Glauben hättet wie
ein Senfkorn, ſo werdet ihr zu dieſem Maulbeer-
baum ſagen: Reiß dich aus der Wurzel und ver-
ſetze dich ins Meer: So würde er euch gehor-
ſam ſeyn.

Was follen Chriſten über dieſe Stelle für Betrach-
tungen machen? Was ſollen ſie für ihren Verſtand und
ihr Herz daraus ſchöpfen? — Euch Chriſten meyn’ ich
mit Nathanaels Seelen — voll Daubeneinfalt und Kin-
derſinns! — Wie wir immer dieſe Stellen nehmen mö-
gen — Buchſtäblich oder ſinnbildlich, wir werden
etwas ſagen müſſen, was der Geiſt unſers Glaubenhaſ-
ſenden Zeitalters aneckeln oder beſpötteln wird. Sehen
wir dieſe Verdorrung eines fruchtloſen Feigenbaums,
von dem Jeſus Frucht ſuchte, weil es noch nicht der
Feigen Zeit, das kann heiſſen, die Pflückzeit war, die
Feigenleſe noch nicht vorbey war — bloß als eine (ſym-
boliſche oder) ſinnbildliche Handlung unſers Herrn an
— wodurch Er das unausbleibliche Schickſal fruchtlä-
rer und Thatenloſer Menſchen uns ſinnlich darſtellen und
ans Herz legen will; — So werden vielleicht einige
darüber als eine myſtiſche (geheimnißſuchende) Deutung
lachen. Nehmen wir’s aber buchſtäblich, und führen
dieſe Geſchichte als ein Beyſpiel von der Kraft des Glau-

bens
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0340" n="312[332]"/><fw place="top" type="header">Matthäus <hi rendition="#aq">XXI.</hi></fw><lb/><hi rendition="#fr">euer Vater, der in den Himmeln i&#x017F;t, verzeihe. Wenn<lb/>
ihr aber nicht verzeihet; So wird auch euer Va-<lb/>
ter, der in den Himmeln i&#x017F;t, euere Fehler nicht ver-<lb/>
zeihen.</hi> Und nun noch, ehe wir zu den Anmerkungen<lb/><note place="left">Luc.<lb/><hi rendition="#aq">XVII.</hi> 5. 6.</note>&#x017F;elb&#x017F;t kommen, eine Parallel&#x017F;telle: <hi rendition="#fr">Die Apo&#x017F;tel &#x017F;prachen<lb/>
zum Herrn: Herr! Mehre uns den Glauben; Der<lb/>
Herr aber &#x017F;prach: Wenn ihr Glauben hättet wie<lb/>
ein Senfkorn, &#x017F;o werdet ihr zu die&#x017F;em Maulbeer-<lb/>
baum &#x017F;agen: Reiß dich aus der Wurzel und ver-<lb/>
&#x017F;etze dich ins Meer: So würde er euch gehor-<lb/>
&#x017F;am &#x017F;eyn.</hi></p><lb/>
            <p>Was follen Chri&#x017F;ten über die&#x017F;e Stelle für Betrach-<lb/>
tungen machen? Was &#x017F;ollen &#x017F;ie für ihren Ver&#x017F;tand und<lb/>
ihr Herz daraus &#x017F;chöpfen? &#x2014; Euch Chri&#x017F;ten meyn&#x2019; ich<lb/>
mit Nathanaels Seelen &#x2014; voll Daubeneinfalt und Kin-<lb/>
der&#x017F;inns! &#x2014; Wie wir immer die&#x017F;e Stellen nehmen mö-<lb/>
gen &#x2014; <hi rendition="#fr">Buch&#x017F;täblich</hi> oder <hi rendition="#fr">&#x017F;innbildlich,</hi> wir werden<lb/>
etwas &#x017F;agen mü&#x017F;&#x017F;en, was der Gei&#x017F;t un&#x017F;ers Glaubenha&#x017F;-<lb/>
&#x017F;enden Zeitalters aneckeln oder be&#x017F;pötteln wird. Sehen<lb/>
wir die&#x017F;e Verdorrung eines fruchtlo&#x017F;en Feigenbaums,<lb/>
von dem <hi rendition="#fr">Je&#x017F;us</hi> Frucht &#x017F;uchte, weil es noch nicht der<lb/>
Feigen Zeit, das kann hei&#x017F;&#x017F;en, die Pflückzeit war, die<lb/>
Feigenle&#x017F;e noch nicht vorbey war &#x2014; bloß als eine (&#x017F;ym-<lb/>
boli&#x017F;che oder) &#x017F;innbildliche Handlung un&#x017F;ers Herrn an<lb/>
&#x2014; wodurch Er das unausbleibliche Schick&#x017F;al fruchtlä-<lb/>
rer und Thatenlo&#x017F;er Men&#x017F;chen uns &#x017F;innlich dar&#x017F;tellen und<lb/>
ans Herz legen will; &#x2014; So werden vielleicht einige<lb/>
darüber als eine my&#x017F;ti&#x017F;che (geheimniß&#x017F;uchende) Deutung<lb/>
lachen. Nehmen wir&#x2019;s aber buch&#x017F;täblich, und führen<lb/>
die&#x017F;e Ge&#x017F;chichte als ein Bey&#x017F;piel von der Kraft des Glau-<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">bens</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[312[332]/0340] Matthäus XXI. euer Vater, der in den Himmeln iſt, verzeihe. Wenn ihr aber nicht verzeihet; So wird auch euer Va- ter, der in den Himmeln iſt, euere Fehler nicht ver- zeihen. Und nun noch, ehe wir zu den Anmerkungen ſelbſt kommen, eine Parallelſtelle: Die Apoſtel ſprachen zum Herrn: Herr! Mehre uns den Glauben; Der Herr aber ſprach: Wenn ihr Glauben hättet wie ein Senfkorn, ſo werdet ihr zu dieſem Maulbeer- baum ſagen: Reiß dich aus der Wurzel und ver- ſetze dich ins Meer: So würde er euch gehor- ſam ſeyn. Luc. XVII. 5. 6. Was follen Chriſten über dieſe Stelle für Betrach- tungen machen? Was ſollen ſie für ihren Verſtand und ihr Herz daraus ſchöpfen? — Euch Chriſten meyn’ ich mit Nathanaels Seelen — voll Daubeneinfalt und Kin- derſinns! — Wie wir immer dieſe Stellen nehmen mö- gen — Buchſtäblich oder ſinnbildlich, wir werden etwas ſagen müſſen, was der Geiſt unſers Glaubenhaſ- ſenden Zeitalters aneckeln oder beſpötteln wird. Sehen wir dieſe Verdorrung eines fruchtloſen Feigenbaums, von dem Jeſus Frucht ſuchte, weil es noch nicht der Feigen Zeit, das kann heiſſen, die Pflückzeit war, die Feigenleſe noch nicht vorbey war — bloß als eine (ſym- boliſche oder) ſinnbildliche Handlung unſers Herrn an — wodurch Er das unausbleibliche Schickſal fruchtlä- rer und Thatenloſer Menſchen uns ſinnlich darſtellen und ans Herz legen will; — So werden vielleicht einige darüber als eine myſtiſche (geheimnißſuchende) Deutung lachen. Nehmen wir’s aber buchſtäblich, und führen dieſe Geſchichte als ein Beyſpiel von der Kraft des Glau- bens

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Matthias Boenig, Yannic Bracke, Benjamin Fiechter, Susanne Haaf, Linda Kirsten, Xi Zhang: Arbeitsschritte im Digitalisierungsworkflow: Vorbereitung der Bildvorlagen für die Textdigitalisierung; Bearbeitung, Konvertierung und ggf. Nachstrukturierung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Linda Kirsten, Frauke Thielert, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Erbauungsschriften zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_betrachtungen01_1783
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_betrachtungen01_1783/340
Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Betrachtungen über die wichtigsten Stellen der Evangelien. Bd. 1: Matthäus und Markus. Dessau/Leipzig, 1783, S. 312[332]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_betrachtungen01_1783/340>, abgerufen am 28.07.2024.