Lavater, Johann Caspar: Betrachtungen über die wichtigsten Stellen der Evangelien. Bd. 1: Matthäus und Markus. Dessau/Leipzig, 1783.Heucheley und Ehrgeitz der Pharisäer. den letzten Funken der Redlichkeit schaamlos zertretendeHeuchler, wie die Pharisäer und Schriftgelehrten waren, giebt es -- zur Ehre der Menschheit hoff' ich's -- nicht viele. Aber ist Heucheley in geringern Grade nicht auch Heucheley? Und wächst nicht Heucheley, wie jedes andere Laster, aus dem Kleinen allmählig und un- vermerkt in's Grosse. Es giebt so ein Besser scheinen wollen, als man ist -- was sich ja unter uns beynahe jeder erlaubt, worüber sich kaum einer ein Gewissen macht -- Es giebt so ein Verheimlichen, ein Ausschmü- cken, Beschönigen gewisser Gebrechen, Schwächen, un- edler Gesinnungen und Thaten -- so ein zur Schau- stellen, und Staattreiben mit Großmuth, Wohlthä- tigkeit -- Geschmack feiner Empfindung, Delikatesse -- -- -- Was ist dieses im Grunde, vor Gott ge- prüft und gewogen anders, als Heucheley, oder grund- lage dazu? Ja wer da stehet der sehe zu daß er nicht falle! Und eine der reichsten offensten Quellen der Heu- cheley ist -- Ehrgeitz, das Bestreben der Durst nach Achtung, Ansehen, Ruhm, Kredit. Der Ehrgeitzige ist gemeiniglich ein Heuchler -- gewiß wird kein Mensch bälder und leichter ein Heuchler als der Ehrgeitzige. Diese Tugend, diese edle, großmüthige Handlung, sieht er, erwirbt Achtung, Bewunderung Lobsprüche -- und er affektirt sie, er kleistert sie sich auf, ohne daß sie wirklich sein Eigenthum ist, ohne daß sie wie die Frucht aus der Wurzel, aus seinem Herzen erwuchs. Es ist mir noch ein Räthsel, wie vernünftige, denken- de, edle Menschen Ehrgeitz, (ich sage nicht -- Ehr- liebe)
Heucheley und Ehrgeitz der Phariſäer. den letzten Funken der Redlichkeit ſchaamlos zertretendeHeuchler, wie die Phariſäer und Schriftgelehrten waren, giebt es — zur Ehre der Menſchheit hoff’ ich’s — nicht viele. Aber iſt Heucheley in geringern Grade nicht auch Heucheley? Und wächſt nicht Heucheley, wie jedes andere Laſter, aus dem Kleinen allmählig und un- vermerkt in’s Groſſe. Es giebt ſo ein Beſſer ſcheinen wollen, als man iſt — was ſich ja unter uns beynahe jeder erlaubt, worüber ſich kaum einer ein Gewiſſen macht — Es giebt ſo ein Verheimlichen, ein Ausſchmü- cken, Beſchönigen gewiſſer Gebrechen, Schwächen, un- edler Geſinnungen und Thaten — ſo ein zur Schau- ſtellen, und Staattreiben mit Großmuth, Wohlthä- tigkeit — Geſchmack feiner Empfindung, Delikateſſe — — — Was iſt dieſes im Grunde, vor Gott ge- prüft und gewogen anders, als Heucheley, oder grund- lage dazu? Ja wer da ſtehet der ſehe zu daß er nicht falle! Und eine der reichſten offenſten Quellen der Heu- cheley iſt — Ehrgeitz, das Beſtreben der Durſt nach Achtung, Anſehen, Ruhm, Kredit. Der Ehrgeitzige iſt gemeiniglich ein Heuchler — gewiß wird kein Menſch bälder und leichter ein Heuchler als der Ehrgeitzige. Dieſe Tugend, dieſe edle, großmüthige Handlung, ſieht er, erwirbt Achtung, Bewunderung Lobſprüche — und er affektirt ſie, er kleiſtert ſie ſich auf, ohne daß ſie wirklich ſein Eigenthum iſt, ohne daß ſie wie die Frucht aus der Wurzel, aus ſeinem Herzen erwuchs. Es iſt mir noch ein Räthſel, wie vernünftige, denken- de, edle Menſchen Ehrgeitz, (ich ſage nicht — Ehr- liebe)
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Heucheley und Ehrgeitz der Phariſäer.
den letzten Funken der Redlichkeit ſchaamlos zertretende
Heuchler, wie die Phariſäer und Schriftgelehrten
waren, giebt es — zur Ehre der Menſchheit hoff’ ich’s
— nicht viele. Aber iſt Heucheley in geringern Grade
nicht auch Heucheley? Und wächſt nicht Heucheley, wie
jedes andere Laſter, aus dem Kleinen allmählig und un-
vermerkt in’s Groſſe. Es giebt ſo ein Beſſer ſcheinen
wollen, als man iſt — was ſich ja unter uns beynahe
jeder erlaubt, worüber ſich kaum einer ein Gewiſſen
macht — Es giebt ſo ein Verheimlichen, ein Ausſchmü-
cken, Beſchönigen gewiſſer Gebrechen, Schwächen, un-
edler Geſinnungen und Thaten — ſo ein zur Schau-
ſtellen, und Staattreiben mit Großmuth, Wohlthä-
tigkeit — Geſchmack feiner Empfindung, Delikateſſe
— — — Was iſt dieſes im Grunde, vor Gott ge-
prüft und gewogen anders, als Heucheley, oder grund-
lage dazu? Ja wer da ſtehet der ſehe zu daß er nicht
falle! Und eine der reichſten offenſten Quellen der Heu-
cheley iſt — Ehrgeitz, das Beſtreben der Durſt nach
Achtung, Anſehen, Ruhm, Kredit. Der Ehrgeitzige
iſt gemeiniglich ein Heuchler — gewiß wird kein Menſch
bälder und leichter ein Heuchler als der Ehrgeitzige.
Dieſe Tugend, dieſe edle, großmüthige Handlung, ſieht
er, erwirbt Achtung, Bewunderung Lobſprüche — und
er affektirt ſie, er kleiſtert ſie ſich auf, ohne daß ſie
wirklich ſein Eigenthum iſt, ohne daß ſie wie die
Frucht aus der Wurzel, aus ſeinem Herzen erwuchs.
Es iſt mir noch ein Räthſel, wie vernünftige, denken-
de, edle Menſchen Ehrgeitz, (ich ſage nicht — Ehr-
liebe)
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