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Lavater, Johann Caspar: Betrachtungen über die wichtigsten Stellen der Evangelien. Bd. 1: Matthäus und Markus. Dessau/Leipzig, 1783.

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Matthäus XXVII.

Der unschuldig erklärt wird, wird verurtheilt;
Die Unsträflichkeit wird zum Kreuzestode verdammt.
Betäubt und gefesselt wird die Vernunft von der Ge-
walt der vereinigtstürmenden Leidenschaft. Unschuldi-
ger kann nie keine Unschuld seyn, keine nie erscheinen,
als die auf Gabbatha -- und keine so stürmisch, so ge-
setzlos, so widerrechtlich, so widersinnig verurtheilt-
und zertreten werden, wie diese. -- Umsonst spricht
Wahrheit und Gerechtigkeit für sie! Zu laut ruft Lüge
und Mordsucht wider sie. Siehe! Was Tugend und
Laster, Unschuld und Bosheit vermag! Siehe auf Ei-
nem Schauplatz die Höhe der Tugend, und die Tiefe des
Lasters! Die Unschuld kann schweigen, als ob sie die
Schuld selbst wäre -- das Laster kann schreyen, als ob
sich keine Stimme gegen dasselbe regen dürfte. Je mehr
das Laster tobt, desto tiefer schweigt die göttliche Un-
schuld. Die Hölle ruft, und anbethend in der Tiefe
der Seele blickt die Unschuld zum schweigenden Himmel
empor -- "Du wirst reden, wenn es Zeit ist -- Ein
&q;Wort sagen, dem alle Zungen verstummen werden."

Sein Blut sey ob uns und ob unsern Kin-
dern!
riefen die Wütenden, die keiner Vernunft, keinem
Gewissen Gehör gaben. Sie schrieen um Rache .. und
ihr Rachgeschrey wird Gott erhören, als ob's das deh-
müthigste Gebeth wäre, wenn der Erlöser aus Sion
kommen, und die Gottlosigkeit von Jakob ab-
wenden wird.
-- Das Blut, das vergossen ward
zur Verzeihung der Sünden für viele; Das Blut, das
besseres redet, denn Abels, obgleich es unschuldiger

vergossen
Matthäus XXVII.

Der unſchuldig erklärt wird, wird verurtheilt;
Die Unſträflichkeit wird zum Kreuzestode verdammt.
Betäubt und gefeſſelt wird die Vernunft von der Ge-
walt der vereinigtſtürmenden Leidenſchaft. Unſchuldi-
ger kann nie keine Unſchuld ſeyn, keine nie erſcheinen,
als die auf Gabbatha — und keine ſo ſtürmiſch, ſo ge-
ſetzlos, ſo widerrechtlich, ſo widerſinnig verurtheilt-
und zertreten werden, wie dieſe. — Umſonſt ſpricht
Wahrheit und Gerechtigkeit für ſie! Zu laut ruft Lüge
und Mordſucht wider ſie. Siehe! Was Tugend und
Laſter, Unſchuld und Bosheit vermag! Siehe auf Ei-
nem Schauplatz die Höhe der Tugend, und die Tiefe des
Laſters! Die Unſchuld kann ſchweigen, als ob ſie die
Schuld ſelbſt wäre — das Laſter kann ſchreyen, als ob
ſich keine Stimme gegen daſſelbe regen dürfte. Je mehr
das Laſter tobt, deſto tiefer ſchweigt die göttliche Un-
ſchuld. Die Hölle ruft, und anbethend in der Tiefe
der Seele blickt die Unſchuld zum ſchweigenden Himmel
empor — „Du wirſt reden, wenn es Zeit iſt — Ein
&q;Wort ſagen, dem alle Zungen verſtummen werden.“

Sein Blut ſey ob uns und ob unſern Kin-
dern!
riefen die Wütenden, die keiner Vernunft, keinem
Gewiſſen Gehör gaben. Sie ſchrieen um Rache .. und
ihr Rachgeſchrey wird Gott erhören, als ob’s das deh-
müthigſte Gebeth wäre, wenn der Erlöſer aus Sion
kommen, und die Gottloſigkeit von Jakob ab-
wenden wird.
— Das Blut, das vergoſſen ward
zur Verzeihung der Sünden für viele; Das Blut, das
beſſeres redet, denn Abels, obgleich es unſchuldiger

vergoſſen
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[512[532]/0540] Matthäus XXVII. Der unſchuldig erklärt wird, wird verurtheilt; Die Unſträflichkeit wird zum Kreuzestode verdammt. Betäubt und gefeſſelt wird die Vernunft von der Ge- walt der vereinigtſtürmenden Leidenſchaft. Unſchuldi- ger kann nie keine Unſchuld ſeyn, keine nie erſcheinen, als die auf Gabbatha — und keine ſo ſtürmiſch, ſo ge- ſetzlos, ſo widerrechtlich, ſo widerſinnig verurtheilt- und zertreten werden, wie dieſe. — Umſonſt ſpricht Wahrheit und Gerechtigkeit für ſie! Zu laut ruft Lüge und Mordſucht wider ſie. Siehe! Was Tugend und Laſter, Unſchuld und Bosheit vermag! Siehe auf Ei- nem Schauplatz die Höhe der Tugend, und die Tiefe des Laſters! Die Unſchuld kann ſchweigen, als ob ſie die Schuld ſelbſt wäre — das Laſter kann ſchreyen, als ob ſich keine Stimme gegen daſſelbe regen dürfte. Je mehr das Laſter tobt, deſto tiefer ſchweigt die göttliche Un- ſchuld. Die Hölle ruft, und anbethend in der Tiefe der Seele blickt die Unſchuld zum ſchweigenden Himmel empor — „Du wirſt reden, wenn es Zeit iſt — Ein &q;Wort ſagen, dem alle Zungen verſtummen werden.“ Sein Blut ſey ob uns und ob unſern Kin- dern! riefen die Wütenden, die keiner Vernunft, keinem Gewiſſen Gehör gaben. Sie ſchrieen um Rache .. und ihr Rachgeſchrey wird Gott erhören, als ob’s das deh- müthigſte Gebeth wäre, wenn der Erlöſer aus Sion kommen, und die Gottloſigkeit von Jakob ab- wenden wird. — Das Blut, das vergoſſen ward zur Verzeihung der Sünden für viele; Das Blut, das beſſeres redet, denn Abels, obgleich es unſchuldiger vergoſſen

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Betrachtungen über die wichtigsten Stellen der Evangelien. Bd. 1: Matthäus und Markus. Dessau/Leipzig, 1783, S. 512[532]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_betrachtungen01_1783/540>, abgerufen am 24.11.2024.