Der unschuldig erklärt wird, wird verurtheilt; Die Unsträflichkeit wird zum Kreuzestode verdammt. Betäubt und gefesselt wird die Vernunft von der Ge- walt der vereinigtstürmenden Leidenschaft. Unschuldi- ger kann nie keine Unschuld seyn, keine nie erscheinen, als die auf Gabbatha -- und keine so stürmisch, so ge- setzlos, so widerrechtlich, so widersinnig verurtheilt- und zertreten werden, wie diese. -- Umsonst spricht Wahrheit und Gerechtigkeit für sie! Zu laut ruft Lüge und Mordsucht wider sie. Siehe! Was Tugend und Laster, Unschuld und Bosheit vermag! Siehe auf Ei- nem Schauplatz die Höhe der Tugend, und die Tiefe des Lasters! Die Unschuld kann schweigen, als ob sie die Schuld selbst wäre -- das Laster kann schreyen, als ob sich keine Stimme gegen dasselbe regen dürfte. Je mehr das Laster tobt, desto tiefer schweigt die göttliche Un- schuld. Die Hölle ruft, und anbethend in der Tiefe der Seele blickt die Unschuld zum schweigenden Himmel empor -- "Du wirst reden, wenn es Zeit ist -- Ein &q;Wort sagen, dem alle Zungen verstummen werden."
Sein Blut sey ob uns und ob unsern Kin- dern! riefen die Wütenden, die keiner Vernunft, keinem Gewissen Gehör gaben. Sie schrieen um Rache .. und ihr Rachgeschrey wird Gott erhören, als ob's das deh- müthigste Gebeth wäre, wenn der Erlöser aus Sion kommen, und die Gottlosigkeit von Jakob ab- wenden wird. -- Das Blut, das vergossen ward zur Verzeihung der Sünden für viele; Das Blut, das besseres redet, denn Abels, obgleich es unschuldiger
vergossen
Matthäus XXVII.
Der unſchuldig erklärt wird, wird verurtheilt; Die Unſträflichkeit wird zum Kreuzestode verdammt. Betäubt und gefeſſelt wird die Vernunft von der Ge- walt der vereinigtſtürmenden Leidenſchaft. Unſchuldi- ger kann nie keine Unſchuld ſeyn, keine nie erſcheinen, als die auf Gabbatha — und keine ſo ſtürmiſch, ſo ge- ſetzlos, ſo widerrechtlich, ſo widerſinnig verurtheilt- und zertreten werden, wie dieſe. — Umſonſt ſpricht Wahrheit und Gerechtigkeit für ſie! Zu laut ruft Lüge und Mordſucht wider ſie. Siehe! Was Tugend und Laſter, Unſchuld und Bosheit vermag! Siehe auf Ei- nem Schauplatz die Höhe der Tugend, und die Tiefe des Laſters! Die Unſchuld kann ſchweigen, als ob ſie die Schuld ſelbſt wäre — das Laſter kann ſchreyen, als ob ſich keine Stimme gegen daſſelbe regen dürfte. Je mehr das Laſter tobt, deſto tiefer ſchweigt die göttliche Un- ſchuld. Die Hölle ruft, und anbethend in der Tiefe der Seele blickt die Unſchuld zum ſchweigenden Himmel empor — „Du wirſt reden, wenn es Zeit iſt — Ein &q;Wort ſagen, dem alle Zungen verſtummen werden.“
Sein Blut ſey ob uns und ob unſern Kin- dern! riefen die Wütenden, die keiner Vernunft, keinem Gewiſſen Gehör gaben. Sie ſchrieen um Rache .. und ihr Rachgeſchrey wird Gott erhören, als ob’s das deh- müthigſte Gebeth wäre, wenn der Erlöſer aus Sion kommen, und die Gottloſigkeit von Jakob ab- wenden wird. — Das Blut, das vergoſſen ward zur Verzeihung der Sünden für viele; Das Blut, das beſſeres redet, denn Abels, obgleich es unſchuldiger
vergoſſen
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[512[532]/0540]
Matthäus XXVII.
Der unſchuldig erklärt wird, wird verurtheilt;
Die Unſträflichkeit wird zum Kreuzestode verdammt.
Betäubt und gefeſſelt wird die Vernunft von der Ge-
walt der vereinigtſtürmenden Leidenſchaft. Unſchuldi-
ger kann nie keine Unſchuld ſeyn, keine nie erſcheinen,
als die auf Gabbatha — und keine ſo ſtürmiſch, ſo ge-
ſetzlos, ſo widerrechtlich, ſo widerſinnig verurtheilt-
und zertreten werden, wie dieſe. — Umſonſt ſpricht
Wahrheit und Gerechtigkeit für ſie! Zu laut ruft Lüge
und Mordſucht wider ſie. Siehe! Was Tugend und
Laſter, Unſchuld und Bosheit vermag! Siehe auf Ei-
nem Schauplatz die Höhe der Tugend, und die Tiefe des
Laſters! Die Unſchuld kann ſchweigen, als ob ſie die
Schuld ſelbſt wäre — das Laſter kann ſchreyen, als ob
ſich keine Stimme gegen daſſelbe regen dürfte. Je mehr
das Laſter tobt, deſto tiefer ſchweigt die göttliche Un-
ſchuld. Die Hölle ruft, und anbethend in der Tiefe
der Seele blickt die Unſchuld zum ſchweigenden Himmel
empor — „Du wirſt reden, wenn es Zeit iſt — Ein
&q;Wort ſagen, dem alle Zungen verſtummen werden.“
Sein Blut ſey ob uns und ob unſern Kin-
dern! riefen die Wütenden, die keiner Vernunft, keinem
Gewiſſen Gehör gaben. Sie ſchrieen um Rache .. und
ihr Rachgeſchrey wird Gott erhören, als ob’s das deh-
müthigſte Gebeth wäre, wenn der Erlöſer aus Sion
kommen, und die Gottloſigkeit von Jakob ab-
wenden wird. — Das Blut, das vergoſſen ward
zur Verzeihung der Sünden für viele; Das Blut, das
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Lavater, Johann Caspar: Betrachtungen über die wichtigsten Stellen der Evangelien. Bd. 1: Matthäus und Markus. Dessau/Leipzig, 1783, S. 512[532]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_betrachtungen01_1783/540>, abgerufen am 24.11.2024.
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