dere Menschen so entscheidend ab, als ob wir blos dazu ausdrücklich gesetzt wären, abzusprechen; und die andern blos darum da, um von uns über sich absprechen zu las- sen -- Bis uns hierüber die Augen aufgehn, und blei- che Schaam über unsere häusigen, unleidlichen Anmassun- gen des höchsten Richteramts über andre, uns überfällt -- steht es mit unserm Christenthum, oder, wenn Ihr lieber wollt, mit unserer Reinheit und Ruhe sehr übel. Unser beständiges Richten anderer ist nicht nur Verle- tzung der brüderlichen Liebe, die wir jedem Nebenmen- schen schuldig sind; -- Nicht nur schändliche Verges- sung unsrer eignen mannichfaltigen, anderen oft schlech- terdings unerträglichen Schwachheiten -- sondern ein förmlicher, verwegener Eingrif in Gottes Majestäts- recht: Jeder von uns steht oder fällt seinem eig-Röm. XIV. 10. nen Herrn, wer bist du, der du einen andern richtest?
Möge jeder, der dies lieset, oder lesen hört, nur einen einzigen Tag sich alles scharfen, lieblosen Richtens -- Absprechens über den innern Charakter, und aller Bestimmungen des wohlverdienten Schicksals anderer, um des Wortes Christi willen enthalten! -- man ver- unreiniget sicherlich durch jedes richterliche Urtheil über seinen Nebenmenschen allemal sein Herz. Man stichlt sich allemal etwas von Ruhe, Kraft, Selbstgenuß -- das man sich schwerlich wieder ersetzen oder vergüten kann. Sich selber richten -- das ist's, was das Evangelium und wahre Weisheit von uns verlangt. Wer1. Cor. XI. 31. sich selber richtet wird nicht gerichtet; Aber scharf gerichtet, wer andere scharf richtet. Weil wir doch so
viel
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Richten.
dere Menſchen ſo entſcheidend ab, als ob wir blos dazu ausdrücklich geſetzt wären, abzuſprechen; und die andern blos darum da, um von uns über ſich abſprechen zu laſ- ſen — Bis uns hierüber die Augen aufgehn, und blei- che Schaam über unſere häuſigen, unleidlichen Anmaſſun- gen des höchſten Richteramts über andre, uns überfällt — ſteht es mit unſerm Chriſtenthum, oder, wenn Ihr lieber wollt, mit unſerer Reinheit und Ruhe ſehr übel. Unſer beſtändiges Richten anderer iſt nicht nur Verle- tzung der brüderlichen Liebe, die wir jedem Nebenmen- ſchen ſchuldig ſind; — Nicht nur ſchändliche Vergeſ- ſung unſrer eignen mannichfaltigen, anderen oft ſchlech- terdings unerträglichen Schwachheiten — ſondern ein förmlicher, verwegener Eingrif in Gottes Majeſtäts- recht: Jeder von uns ſteht oder fällt ſeinem eig-Röm. XIV. 10. nen Herrn, wer biſt du, der du einen andern richteſt?
Möge jeder, der dies lieſet, oder leſen hört, nur einen einzigen Tag ſich alles ſcharfen, liebloſen Richtens — Abſprechens über den innern Charakter, und aller Beſtimmungen des wohlverdienten Schickſals anderer, um des Wortes Chriſti willen enthalten! — man ver- unreiniget ſicherlich durch jedes richterliche Urtheil über ſeinen Nebenmenſchen allemal ſein Herz. Man ſtichlt ſich allemal etwas von Ruhe, Kraft, Selbſtgenuß — das man ſich ſchwerlich wieder erſetzen oder vergüten kann. Sich ſelber richten — das iſt’s, was das Evangelium und wahre Weisheit von uns verlangt. Wer1. Cor. XI. 31. ſich ſelber richtet wird nicht gerichtet; Aber ſcharf gerichtet, wer andere ſcharf richtet. Weil wir doch ſo
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[41[61]/0069]
Richten.
dere Menſchen ſo entſcheidend ab, als ob wir blos dazu
ausdrücklich geſetzt wären, abzuſprechen; und die andern
blos darum da, um von uns über ſich abſprechen zu laſ-
ſen — Bis uns hierüber die Augen aufgehn, und blei-
che Schaam über unſere häuſigen, unleidlichen Anmaſſun-
gen des höchſten Richteramts über andre, uns überfällt
— ſteht es mit unſerm Chriſtenthum, oder, wenn Ihr
lieber wollt, mit unſerer Reinheit und Ruhe ſehr übel.
Unſer beſtändiges Richten anderer iſt nicht nur Verle-
tzung der brüderlichen Liebe, die wir jedem Nebenmen-
ſchen ſchuldig ſind; — Nicht nur ſchändliche Vergeſ-
ſung unſrer eignen mannichfaltigen, anderen oft ſchlech-
terdings unerträglichen Schwachheiten — ſondern ein
förmlicher, verwegener Eingrif in Gottes Majeſtäts-
recht: Jeder von uns ſteht oder fällt ſeinem eig-
nen Herrn, wer biſt du, der du einen andern
richteſt?
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XIV. 10.
Möge jeder, der dies lieſet, oder leſen hört, nur
einen einzigen Tag ſich alles ſcharfen, liebloſen Richtens
— Abſprechens über den innern Charakter, und aller
Beſtimmungen des wohlverdienten Schickſals anderer,
um des Wortes Chriſti willen enthalten! — man ver-
unreiniget ſicherlich durch jedes richterliche Urtheil über
ſeinen Nebenmenſchen allemal ſein Herz. Man ſtichlt
ſich allemal etwas von Ruhe, Kraft, Selbſtgenuß —
das man ſich ſchwerlich wieder erſetzen oder vergüten
kann. Sich ſelber richten — das iſt’s, was das
Evangelium und wahre Weisheit von uns verlangt. Wer
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Lavater, Johann Caspar: Betrachtungen über die wichtigsten Stellen der Evangelien. Bd. 1: Matthäus und Markus. Dessau/Leipzig, 1783, S. 41[61]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_betrachtungen01_1783/69>, abgerufen am 21.11.2024.
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