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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775.

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IX. Fragment. 5. Zugabe. Von der Harmonie
chendsten Theile des Angesichts eine solche Schiefheit und Disproportion, daß er sich kaum
mehr in einen Stand edler Ruhe und Symmetrie zurück arbeiten kann.

Wer kann unsers Demokrits Mund schön finden? Wer sieht nicht, daß er vor-
nehmlich durch den Spott häßlich ist? So nützlich der Spott für den halben Thoren seyn
mag, oder für den, der in Gefahr ist, ein Thor zu werden -- so sehr Montagne recht
haben mag, wenn er deswegen den Spott dem Weinen vorzieht, "weil er demüthigen-
"der, und unserm Verdienst angemeßner" ist, *) als das Weinen; so ist dennoch der
Spott einem Menschen unanständig, und ich möchte deswegen, weil der Spott oft so sehr
nützlich ist, so wenig über Menschen mir Spott erlauben, als ich deswegen Scharfrichter
seyn möchte, weil's doch in der Welt kaum etwas Nützlicheres giebt, als den Scharfrichter.
Es kommt mir eben so ungereimt und widersinnig vor, daß ein Mensch befugt seyn soll,
über einen andern Menschen, so belachenswerth er seyn mag, zu spotten, als es mir unge-
reimt und widersinnig vorkommt, daß ein Mensch befugt seyn soll, einen andern Menschen
zu tödten, und so wie ich glaube, daß die Physiognomie eines Scharfrichters, und wenn
er sonst der sanfteste und edelste Mensch wäre, sich schon dadurch verunedle, daß er in der
Befugniß zu seyn glaubt, gegen andere Menschen bisweilen ein Unmensch zu seyn, so glaub
ich, daß kein Spöttergesicht in der Welt zu finden sey, welches nicht gerade durch den Spott
sich verhäßliche.

Jch habe ein moquantes Gesicht im Schatten gezeichnet; kaum sah es das Origi-
nal, wollt's noch einmal sitzen, fühlte den Mißzug im Gesichte, und sucht ihn zu ver-
bessern.

Was Leßing in einer andern Absicht von dem Porträt der Vignette dieses Blattes
sagt, möcht' ich von dem Urbilde, möcht' ich von jedem Spötter sagen: "La Mettrie, der
"sich als einen zweyten Demokrit mahlen und stechen lassen, lacht nur die erstenmale, die
"man ihn sieht. Betrachtet ihn öfter, und er wird aus einem Philosophen ein Geck: aus
"seinem Lachen wird ein Grinsen." **)

Jch
*) Essay de Montagne L. I. C. 50.
**) Leßings Laocoon. 8. 25.

IX. Fragment. 5. Zugabe. Von der Harmonie
chendſten Theile des Angeſichts eine ſolche Schiefheit und Disproportion, daß er ſich kaum
mehr in einen Stand edler Ruhe und Symmetrie zuruͤck arbeiten kann.

Wer kann unſers Demokrits Mund ſchoͤn finden? Wer ſieht nicht, daß er vor-
nehmlich durch den Spott haͤßlich iſt? So nuͤtzlich der Spott fuͤr den halben Thoren ſeyn
mag, oder fuͤr den, der in Gefahr iſt, ein Thor zu werden — ſo ſehr Montagne recht
haben mag, wenn er deswegen den Spott dem Weinen vorzieht, „weil er demuͤthigen-
„der, und unſerm Verdienſt angemeßner“ iſt, *) als das Weinen; ſo iſt dennoch der
Spott einem Menſchen unanſtaͤndig, und ich moͤchte deswegen, weil der Spott oft ſo ſehr
nuͤtzlich iſt, ſo wenig uͤber Menſchen mir Spott erlauben, als ich deswegen Scharfrichter
ſeyn moͤchte, weil's doch in der Welt kaum etwas Nuͤtzlicheres giebt, als den Scharfrichter.
Es kommt mir eben ſo ungereimt und widerſinnig vor, daß ein Menſch befugt ſeyn ſoll,
uͤber einen andern Menſchen, ſo belachenswerth er ſeyn mag, zu ſpotten, als es mir unge-
reimt und widerſinnig vorkommt, daß ein Menſch befugt ſeyn ſoll, einen andern Menſchen
zu toͤdten, und ſo wie ich glaube, daß die Phyſiognomie eines Scharfrichters, und wenn
er ſonſt der ſanfteſte und edelſte Menſch waͤre, ſich ſchon dadurch verunedle, daß er in der
Befugniß zu ſeyn glaubt, gegen andere Menſchen bisweilen ein Unmenſch zu ſeyn, ſo glaub
ich, daß kein Spoͤttergeſicht in der Welt zu finden ſey, welches nicht gerade durch den Spott
ſich verhaͤßliche.

Jch habe ein moquantes Geſicht im Schatten gezeichnet; kaum ſah es das Origi-
nal, wollt's noch einmal ſitzen, fuͤhlte den Mißzug im Geſichte, und ſucht ihn zu ver-
beſſern.

Was Leßing in einer andern Abſicht von dem Portraͤt der Vignette dieſes Blattes
ſagt, moͤcht' ich von dem Urbilde, moͤcht' ich von jedem Spoͤtter ſagen: „La Mettrie, der
„ſich als einen zweyten Demokrit mahlen und ſtechen laſſen, lacht nur die erſtenmale, die
„man ihn ſieht. Betrachtet ihn oͤfter, und er wird aus einem Philoſophen ein Geck: aus
„ſeinem Lachen wird ein Grinſen.“ **)

Jch
*) Eſſay de Montagne L. I. C. 50.
**) Leßings Laocoon. 8. 25.
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[94/0130] IX. Fragment. 5. Zugabe. Von der Harmonie chendſten Theile des Angeſichts eine ſolche Schiefheit und Disproportion, daß er ſich kaum mehr in einen Stand edler Ruhe und Symmetrie zuruͤck arbeiten kann. Wer kann unſers Demokrits Mund ſchoͤn finden? Wer ſieht nicht, daß er vor- nehmlich durch den Spott haͤßlich iſt? So nuͤtzlich der Spott fuͤr den halben Thoren ſeyn mag, oder fuͤr den, der in Gefahr iſt, ein Thor zu werden — ſo ſehr Montagne recht haben mag, wenn er deswegen den Spott dem Weinen vorzieht, „weil er demuͤthigen- „der, und unſerm Verdienſt angemeßner“ iſt, *) als das Weinen; ſo iſt dennoch der Spott einem Menſchen unanſtaͤndig, und ich moͤchte deswegen, weil der Spott oft ſo ſehr nuͤtzlich iſt, ſo wenig uͤber Menſchen mir Spott erlauben, als ich deswegen Scharfrichter ſeyn moͤchte, weil's doch in der Welt kaum etwas Nuͤtzlicheres giebt, als den Scharfrichter. Es kommt mir eben ſo ungereimt und widerſinnig vor, daß ein Menſch befugt ſeyn ſoll, uͤber einen andern Menſchen, ſo belachenswerth er ſeyn mag, zu ſpotten, als es mir unge- reimt und widerſinnig vorkommt, daß ein Menſch befugt ſeyn ſoll, einen andern Menſchen zu toͤdten, und ſo wie ich glaube, daß die Phyſiognomie eines Scharfrichters, und wenn er ſonſt der ſanfteſte und edelſte Menſch waͤre, ſich ſchon dadurch verunedle, daß er in der Befugniß zu ſeyn glaubt, gegen andere Menſchen bisweilen ein Unmenſch zu ſeyn, ſo glaub ich, daß kein Spoͤttergeſicht in der Welt zu finden ſey, welches nicht gerade durch den Spott ſich verhaͤßliche. Jch habe ein moquantes Geſicht im Schatten gezeichnet; kaum ſah es das Origi- nal, wollt's noch einmal ſitzen, fuͤhlte den Mißzug im Geſichte, und ſucht ihn zu ver- beſſern. Was Leßing in einer andern Abſicht von dem Portraͤt der Vignette dieſes Blattes ſagt, moͤcht' ich von dem Urbilde, moͤcht' ich von jedem Spoͤtter ſagen: „La Mettrie, der „ſich als einen zweyten Demokrit mahlen und ſtechen laſſen, lacht nur die erſtenmale, die „man ihn ſieht. Betrachtet ihn oͤfter, und er wird aus einem Philoſophen ein Geck: aus „ſeinem Lachen wird ein Grinſen.“ **) Jch *) Eſſay de Montagne L. I. C. 50. **) Leßings Laocoon. 8. 25.

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775, S. 94. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente01_1775/130>, abgerufen am 21.11.2024.