Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775.Fehlschlüssen des Physiognomisten. det herzlich mit ihm, blickt ihm tief in seine Seele und -- sieht -- Gott was sieht er? --Abgründe von Lastern und Zerrüttung ohne Maas -- Aber sieht er nur dieß in ihm? Nichts Gutes? -- Gesetzt! Nichts Gutes, so sieht er doch Thon, der zum Töpfer nicht sagen darf, und kann: "Warum hast du mich also gemacht?" Sieht's, betet an und wendet sein Ange- sicht, und verbirgt eine Zähre, die -- unaussprechlich viel -- nicht Menschen, dir Gott allein sagt -- und giebt ihm mit brüderlicher Hand -- nicht nur um seines, durch ihn unglücklichen Weibes, nicht nur um seiner hülflosen, unschuldigen Kinder -- um seiner selbst willen -- um des Gottes Willen, der alles und auch den Gottlosen gemacht hat zu seines Nahmens Ehre -- giebt, um vielleicht noch einen Funken, den er wahrnimmt, anzuflammen, was sein Herz ihn geben heißt -- Nun der Unwürdige misbraucht die Gabe -- oder misbraucht sie nicht -- Gleich viel! Wem er's sagt, sagt wieder: "Wie sich der gute Mann abermal betrügen "ließ!" Der Mensch ist nicht Richter der Menschen! O wie weis das der Physiogno- Gute Menschen sehen auf den besten -- Jch will dein Auge nicht Christus, wenn du len T 2
Fehlſchluͤſſen des Phyſiognomiſten. det herzlich mit ihm, blickt ihm tief in ſeine Seele und — ſieht — Gott was ſieht er? —Abgruͤnde von Laſtern und Zerruͤttung ohne Maas — Aber ſieht er nur dieß in ihm? Nichts Gutes? — Geſetzt! Nichts Gutes, ſo ſieht er doch Thon, der zum Toͤpfer nicht ſagen darf, und kann: „Warum haſt du mich alſo gemacht?“ Sieht's, betet an und wendet ſein Ange- ſicht, und verbirgt eine Zaͤhre, die — unausſprechlich viel — nicht Menſchen, dir Gott allein ſagt — und giebt ihm mit bruͤderlicher Hand — nicht nur um ſeines, durch ihn ungluͤcklichen Weibes, nicht nur um ſeiner huͤlfloſen, unſchuldigen Kinder — um ſeiner ſelbſt willen — um des Gottes Willen, der alles und auch den Gottloſen gemacht hat zu ſeines Nahmens Ehre — giebt, um vielleicht noch einen Funken, den er wahrnimmt, anzuflammen, was ſein Herz ihn geben heißt — Nun der Unwuͤrdige misbraucht die Gabe — oder misbraucht ſie nicht — Gleich viel! Wem er's ſagt, ſagt wieder: „Wie ſich der gute Mann abermal betruͤgen „ließ!“ Der Menſch iſt nicht Richter der Menſchen! O wie weis das der Phyſiogno- Gute Menſchen ſehen auf den beſten — Jch will dein Auge nicht Chriſtus, wenn du len T 2
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Fehlſchluͤſſen des Phyſiognomiſten.
det herzlich mit ihm, blickt ihm tief in ſeine Seele und — ſieht — Gott was ſieht er? —
Abgruͤnde von Laſtern und Zerruͤttung ohne Maas — Aber ſieht er nur dieß in ihm? Nichts
Gutes? — Geſetzt! Nichts Gutes, ſo ſieht er doch Thon, der zum Toͤpfer nicht ſagen darf,
und kann: „Warum haſt du mich alſo gemacht?“ Sieht's, betet an und wendet ſein Ange-
ſicht, und verbirgt eine Zaͤhre, die — unausſprechlich viel — nicht Menſchen, dir Gott allein
ſagt — und giebt ihm mit bruͤderlicher Hand — nicht nur um ſeines, durch ihn ungluͤcklichen
Weibes, nicht nur um ſeiner huͤlfloſen, unſchuldigen Kinder — um ſeiner ſelbſt willen — um
des Gottes Willen, der alles und auch den Gottloſen gemacht hat zu ſeines Nahmens Ehre —
giebt, um vielleicht noch einen Funken, den er wahrnimmt, anzuflammen, was ſein Herz ihn
geben heißt — Nun der Unwuͤrdige misbraucht die Gabe — oder misbraucht ſie nicht —
Gleich viel! Wem er's ſagt, ſagt wieder: „Wie ſich der gute Mann abermal betruͤgen
„ließ!“
Der Menſch iſt nicht Richter der Menſchen! O wie weis das der Phyſiogno-
miſt, der Menſch iſt! — Der maͤchtigſte Menſch, der Herr der Menſchen, war nicht in der
Welt zu richten, ſondern ſelig zu machen. — Nicht ſahe Er die Laſter der Laſterhaften
nicht; nicht verhehlte Er ſie ſich oder andern, wo es Menſchenliebe war, ſie zu beobachten, und
aufzudecken; — aber Er richtete nicht, ſtrafte nicht, vergab: — Gehe hin! Suͤndige
kuͤnftig nicht mehr! — Nimmt auch einen Judas auf, behaͤlt ihn, umarmt ihn, Jhn, in
dem er lange vorher ſeinen Verraͤther erblickte!
Gute Menſchen ſehen auf den beſten — Jch will dein Auge nicht Chriſtus, wenn du
mir dein Herz nicht giebſt. Weisheit ohne Guͤte iſt Thorheit. Jch will gerecht urthei-
len und guͤtig handeln. — Noch ein Fall. Ein verrufener Mann, eine luͤderliche Dirne,
dieweil ſie zehnmal unrecht hatten, da ſie recht zu haben vorgaben, auch das eilftemal verfaͤllt
werden, wann ſie Recht haben, — wenden ſich an den Menſchenbeobachter. Er macht alle
Verſuche und findet ſie diesmal unſchuldig, gegen alle Stimmen der Menge, gegen alle Wahr-
ſcheinlichkeit unſchuldig. Die Klugheit ſagt ihm laut, daß er ausgeziſcht werde, wenn er nur mer-
ken laſſe, daß er in dieſem Falle Unſchuld vermuthe — Aber nicht weniger laut ſagt ihm ſein Herz
— „Rede! Zeuge fuͤr die diesmalige Unſchuld der Allerverworfenſten“ — Er laͤßt ein Wort fal-
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