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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775.

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X. Fragment. Von den oft nur scheinbaren
Grundkräfte, die Hauptstärke, denen sehr oft einzelne Zufälligkeiten durchaus zu widerspre-
chen scheinen.

Ferner -- Es ist kein Mensch so thöricht, keiner so lasterhaft, der nicht Anlagen des
Verstandes -- Anlagen, vielleicht zu allen und jeden Tugenden habe. -- Erblickt das Voll-
kommenheit suchende Auge des gutherzigen Physiognomisten etwas von diesen -- und spricht's
aus -- spricht nur nicht entscheidend und unbedingt wider den -- Menschen; -- so ist er
abermal das Gespötte. -- Und wie oft können Anlagen zu Heldentugenden da seyn, Glut
des Genius tief unter der Asche liegen! -- und was braucht's, als auf die Asche zuzueilen,
mit tiefer Ahndung hineinzuhauchen -- "Hier ist Gluth" -- zu rufen, wo auf den ersten und
zweyten und dritten und vierten Hauch vielleicht -- dem Physiognomisten und Zuschauer --
nur Asche in die Augen stäubt - - - der Zuschauer geht weg und lacht -- und erzählt und
macht zu lachen! Der andere mag warten, und wärmt sich an der heraufgehauchten Flamme. --

Tausend und tausendmal tausendmal sind die trefflichsten Anlagen (die Zukunft wird
uns sagen, warum, wird uns sagen, "nicht umsonst") auf die schrecklichste Weise überwach-
sen. Das gemeine ungeübte Auge sieht nur Schutt und Verwüstung. Erziehung, Umstände,
Bedürfnisse erstickten jedes Bestreben nach Vollkommenheit. Der Physiognomist sieht, schaut,
steht -- sieht und hört Widerspruch -- hört tausend schreyende Menschenstimmen -- Seht
welch ein Mensch!
-- und eine Gottesstimme -- Seht welch ein Mensch! und
betet an, wo der andre lästert, und nie begreifen kann, und könnt' ers, nicht will -- daß da in
der Gestalt, vor der man das Angesicht verbirgt -- Schönheit, Kraft, Weisheit, Güte --
Gottes ist.

Noch mehr, der Physiognomist, oder Menschenbeobachter, der Mensch -- der Christ,
das ist, ein weiser und guter Mensch ist, wird tausendmal wider sein eigenes physiognomisches
Gefühl handeln -- Jch drücke mich unrecht aus; -- Er scheint seinem innern Urtheil von ei-
nem Menschen nicht gemäß zu handeln. Er richtet nicht, wie er urtheilt -- Ein neuer Grund,
warum der Physiognomist oft zu fehlen scheint, warum der wahre Beobachter, die Beob-
achtung
und die Wahrheit, so oft in ihm miskennt, oder verlacht wird. Er sieht den Böse-
wicht in dem Angesichte des Armen, der vor seine Thüre kömmt, und weiset ihn nicht ab, re-

det

X. Fragment. Von den oft nur ſcheinbaren
Grundkraͤfte, die Hauptſtaͤrke, denen ſehr oft einzelne Zufaͤlligkeiten durchaus zu widerſpre-
chen ſcheinen.

Ferner — Es iſt kein Menſch ſo thoͤricht, keiner ſo laſterhaft, der nicht Anlagen des
Verſtandes — Anlagen, vielleicht zu allen und jeden Tugenden habe. — Erblickt das Voll-
kommenheit ſuchende Auge des gutherzigen Phyſiognomiſten etwas von dieſen — und ſpricht's
aus — ſpricht nur nicht entſcheidend und unbedingt wider den — Menſchen; — ſo iſt er
abermal das Geſpoͤtte. — Und wie oft koͤnnen Anlagen zu Heldentugenden da ſeyn, Glut
des Genius tief unter der Aſche liegen! — und was braucht's, als auf die Aſche zuzueilen,
mit tiefer Ahndung hineinzuhauchen — „Hier iſt Gluth“ — zu rufen, wo auf den erſten und
zweyten und dritten und vierten Hauch vielleicht — dem Phyſiognomiſten und Zuſchauer —
nur Aſche in die Augen ſtaͤubt - - - der Zuſchauer geht weg und lacht — und erzaͤhlt und
macht zu lachen! Der andere mag warten, und waͤrmt ſich an der heraufgehauchten Flamme. —

Tauſend und tauſendmal tauſendmal ſind die trefflichſten Anlagen (die Zukunft wird
uns ſagen, warum, wird uns ſagen, „nicht umſonſt“) auf die ſchrecklichſte Weiſe uͤberwach-
ſen. Das gemeine ungeuͤbte Auge ſieht nur Schutt und Verwuͤſtung. Erziehung, Umſtaͤnde,
Beduͤrfniſſe erſtickten jedes Beſtreben nach Vollkommenheit. Der Phyſiognomiſt ſieht, ſchaut,
ſteht — ſieht und hoͤrt Widerſpruch — hoͤrt tauſend ſchreyende Menſchenſtimmen — Seht
welch ein Menſch!
— und eine Gottesſtimme — Seht welch ein Menſch! und
betet an, wo der andre laͤſtert, und nie begreifen kann, und koͤnnt' ers, nicht will — daß da in
der Geſtalt, vor der man das Angeſicht verbirgt — Schoͤnheit, Kraft, Weisheit, Guͤte —
Gottes iſt.

Noch mehr, der Phyſiognomiſt, oder Menſchenbeobachter, der Menſch — der Chriſt,
das iſt, ein weiſer und guter Menſch iſt, wird tauſendmal wider ſein eigenes phyſiognomiſches
Gefuͤhl handeln — Jch druͤcke mich unrecht aus; — Er ſcheint ſeinem innern Urtheil von ei-
nem Menſchen nicht gemaͤß zu handeln. Er richtet nicht, wie er urtheilt — Ein neuer Grund,
warum der Phyſiognomiſt oft zu fehlen ſcheint, warum der wahre Beobachter, die Beob-
achtung
und die Wahrheit, ſo oft in ihm miskennt, oder verlacht wird. Er ſieht den Boͤſe-
wicht in dem Angeſichte des Armen, der vor ſeine Thuͤre koͤmmt, und weiſet ihn nicht ab, re-

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[138/0206] X. Fragment. Von den oft nur ſcheinbaren Grundkraͤfte, die Hauptſtaͤrke, denen ſehr oft einzelne Zufaͤlligkeiten durchaus zu widerſpre- chen ſcheinen. Ferner — Es iſt kein Menſch ſo thoͤricht, keiner ſo laſterhaft, der nicht Anlagen des Verſtandes — Anlagen, vielleicht zu allen und jeden Tugenden habe. — Erblickt das Voll- kommenheit ſuchende Auge des gutherzigen Phyſiognomiſten etwas von dieſen — und ſpricht's aus — ſpricht nur nicht entſcheidend und unbedingt wider den — Menſchen; — ſo iſt er abermal das Geſpoͤtte. — Und wie oft koͤnnen Anlagen zu Heldentugenden da ſeyn, Glut des Genius tief unter der Aſche liegen! — und was braucht's, als auf die Aſche zuzueilen, mit tiefer Ahndung hineinzuhauchen — „Hier iſt Gluth“ — zu rufen, wo auf den erſten und zweyten und dritten und vierten Hauch vielleicht — dem Phyſiognomiſten und Zuſchauer — nur Aſche in die Augen ſtaͤubt - - - der Zuſchauer geht weg und lacht — und erzaͤhlt und macht zu lachen! Der andere mag warten, und waͤrmt ſich an der heraufgehauchten Flamme. — Tauſend und tauſendmal tauſendmal ſind die trefflichſten Anlagen (die Zukunft wird uns ſagen, warum, wird uns ſagen, „nicht umſonſt“) auf die ſchrecklichſte Weiſe uͤberwach- ſen. Das gemeine ungeuͤbte Auge ſieht nur Schutt und Verwuͤſtung. Erziehung, Umſtaͤnde, Beduͤrfniſſe erſtickten jedes Beſtreben nach Vollkommenheit. Der Phyſiognomiſt ſieht, ſchaut, ſteht — ſieht und hoͤrt Widerſpruch — hoͤrt tauſend ſchreyende Menſchenſtimmen — Seht welch ein Menſch! — und eine Gottesſtimme — Seht welch ein Menſch! und betet an, wo der andre laͤſtert, und nie begreifen kann, und koͤnnt' ers, nicht will — daß da in der Geſtalt, vor der man das Angeſicht verbirgt — Schoͤnheit, Kraft, Weisheit, Guͤte — Gottes iſt. Noch mehr, der Phyſiognomiſt, oder Menſchenbeobachter, der Menſch — der Chriſt, das iſt, ein weiſer und guter Menſch iſt, wird tauſendmal wider ſein eigenes phyſiognomiſches Gefuͤhl handeln — Jch druͤcke mich unrecht aus; — Er ſcheint ſeinem innern Urtheil von ei- nem Menſchen nicht gemaͤß zu handeln. Er richtet nicht, wie er urtheilt — Ein neuer Grund, warum der Phyſiognomiſt oft zu fehlen ſcheint, warum der wahre Beobachter, die Beob- achtung und die Wahrheit, ſo oft in ihm miskennt, oder verlacht wird. Er ſieht den Boͤſe- wicht in dem Angeſichte des Armen, der vor ſeine Thuͤre koͤmmt, und weiſet ihn nicht ab, re- det

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775, S. 138. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente01_1775/206>, abgerufen am 21.11.2024.