Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775.I. Fragment. Von der Geringheit Von ungefähr fügt' es sich, daß ich einmal neben Herrn Zimmermann, itzigem königlich- und
I. Fragment. Von der Geringheit Von ungefaͤhr fuͤgt' es ſich, daß ich einmal neben Herrn Zimmermann, itzigem koͤniglich- und
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I. Fragment. Von der Geringheit
Von ungefaͤhr fuͤgt' es ſich, daß ich einmal neben Herrn Zimmermann, itzigem koͤniglich-
großbrittanniſchen Leibarzt in Hannover, da er noch in Brugg war, am Fenſter ſtand, einem
militaͤriſchen Zuge zuſahe — und durch eine, mir voͤllig unbekannte, Phyſiognomie, meines kur-
zen Geſichts ungeachtet, von der Gaſſe herauf gedrungen wurde, ohne die mindeſte Ueberlegung,
ohne den mindeſten Gedanken, daß ich etwas Merkwuͤrdiges ſagte, ein ſehr entſcheidendes Urtheil
zu faͤllen. Herr Zimmermann fragte mich mit einigem Erſtaunen — „worauf ſich mein Ur-
„theil gruͤnde?“ — „Jch las es aus dem Halſe,“ war meine Antwort. Dieſes war eigentlich
die Geburtsſtunde meines phyſiognomiſchen Studiums. Herr Zimmermann verſuchte alles,
mich aufzumuntern; er zwang mir Urtheile ab. Erbaͤrmlich waren die meiſten, eben deswegen,
weil ſie nicht ſchneller Ausdruck ſchnellen unſtudirten Gefuͤhls waren — und ich kann bis auf den
heutigen Tag nicht begreifen, wie dieſer große Geiſt ſich dadurch nicht abſchrecken ließ, mich immer
fort zu noͤthigen, meine Beobachtungen aufzuſchreiben. Jch fieng an, mit ihm Briefe zu wech-
ſeln; Geſichter aus der Jmagination zu zeichnen, u. ſ. w. Aber bald ließ ich es wieder, ließ es
Jahre lang liegen, lachte uͤber alle dieſe Verſuche — las nichts, und ſchrieb nicht ein Wort mehr
druͤber. — Auf einmal, da die Reihe mich traf, der naturforſchenden Geſellſchaft in Zuͤrich eine
Vorleſung zu halten, und ich nicht wußte, woruͤber? — fiel ich wieder auf die Phyſiognomik,
und ſchrieb, Gott weiß, mit welcher Fluͤchtigkeit, dieſe Vorleſung; Herr Klockenbring von
Hannover bat mich drum fuͤr Zimmermannen. Jch gab ſie ihm in aller der Unvollkommenheit ei-
nes unbrauchbaren Manuſcripts. Herr Zimmermann ließ ſie ohne mein mindeſtes Wiſſen dru-
cken — Und ſo ſah' ich mich auf einmal als Vertheidiger der Phyſiognomik in die offne Welt
hineingeſtellt. Jch ließ die zweyte Vorleſung dazu drucken, und glaubte nun, auf einmal — aller
weitern oͤffentlichen Bemuͤhungen in dieſer Sachelos zu ſeyn. Allein — zwo entgegengeſetzte Maͤch-
te reizten mich aufs neue — noch einmal Hand anzulegen. — Die erbaͤrmlichen Urtheile, die man,
nicht uͤber meine bisherigen Verſuche, denn die erkenne ich fuͤr aͤußerſt unvollkommen, und ihre
Unvollkommenheit iſt in keiner, mir zu Geſichte gekommnen, Recenſion geruͤget worden: — Son-
dern die erbaͤrmlichen Urtheile, die man uͤber die Sache ſelber faͤllte, bey meinem taͤglichen Wachs-
thum im Glauben an die Wahrheit der Geſichtsbildung. — Dieſe Urtheile auf der einen — und
auf der andern Seite, die unzaͤhligen Aufforderungen der weiſeſten, redlichſten, froͤmmſten Maͤnner in
und
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