Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775.Drittes Fragment. Einige Gründe der Verachtung und Verspottung der Physiognomik. Eh' ich fortgehen kann, zu beweisen, daß die Physiognomik eine wahre, in der Natur gegrün- Daß dieß geschieht -- das wird wol keines Beweises bedürfen? Unter hunderten, die Aber es ist dennoch möglich und wichtig, einige der unläugbarsten anzuzeigen, warum der 1. Man hat erbärmliche Dinge über die Gesichtsdeutung geschrieben. Man nen Phys. Fragm. I. Versuch. D
Drittes Fragment. Einige Gruͤnde der Verachtung und Verſpottung der Phyſiognomik. Eh' ich fortgehen kann, zu beweiſen, daß die Phyſiognomik eine wahre, in der Natur gegruͤn- Daß dieß geſchieht — das wird wol keines Beweiſes beduͤrfen? Unter hunderten, die Aber es iſt dennoch moͤglich und wichtig, einige der unlaͤugbarſten anzuzeigen, warum der 1. Man hat erbaͤrmliche Dinge uͤber die Geſichtsdeutung geſchrieben. Man nen Phyſ. Fragm. I. Verſuch. D
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Drittes Fragment.
Einige Gruͤnde der Verachtung und Verſpottung
der Phyſiognomik.
Eh' ich fortgehen kann, zu beweiſen, daß die Phyſiognomik eine wahre, in der Natur gegruͤn-
dete Wiſſenſchaft ſey; eh' ich von ihrem ausgebreiteten Nutzen rede — eh' ich meine Leſer auf die
menſchliche Natur uͤberhaupt aufmerkſam machen kann, finde ich noͤthig, einige Urſachen anzufuͤh-
ren, warum man ſo ſehr wider die Phyſiognomik, beſonders die moraliſche und intellectuelle
eingenommen iſt, warum man ſo ſehr dagegen eifert, oder ſo laut daruͤber lachet.
Daß dieß geſchieht — das wird wol keines Beweiſes beduͤrfen? Unter hunderten, die
daruͤber urtheilen, werden immer uͤber neunzig ſeyn, die, obgleich ſie insgeheim, wenigſtens bis
auf einen gewiſſen Grad, an die Phyſiognomik glauben, oͤffentlich darwider ſich erklaͤren, und dar-
uͤber lachen. Einige thun es auch von ganzem Herzen. Die Urſachen dieſes Betragens ſind nicht
alle zu ergruͤnden; und wenn ſie's waͤre, wer waͤre kuͤhn genug, ſie alle aus der Tiefe des menſch-
lichen Herzens herauszuholen, und dem hellen Lichte des Mittags vorzulegen?
Aber es iſt dennoch moͤglich und wichtig, einige der unlaͤugbarſten anzuzeigen, warum der
Spott und der feindſchaftliche Eifer wider dieſe Wiſſenſchaft ſo allgemein, ſo heftig, ſo unverſoͤhn-
lich iſt — Jch glaube, man wird folgende Urſachen nicht ganz verwerfen koͤnnen.
1. Man hat erbaͤrmliche Dinge uͤber die Geſichtsdeutung geſchrieben. Man
hat die Herrlichkeit dieſer Wiſſenſchaft in die unvernuͤnftigſte und abgeſchmackteſte Charlatanerie
verwandelt; man hat ſie mit der weißagenden Stirndeutung und Chiromantie, oder Handwahr-
ſagerey vermiſcht; Es kann nichts ſeichters, grundloſeres, allen Menſchenverſtand empoͤrenderes
gedacht werden, als was von Ariſtoteles Zeiten her daruͤber geſchrieben worden. Und dagegen,
was hatte man Gutes, das dafuͤr geſchrieben war? Welcher Mann von Verſtand und Geſchmacke,
welches Genie hat die Unpartheylichkeit, die Geiſtesſtaͤrke, die Wahrheitsliebe bey der Unterſu-
chung dieſer Sache angewandt, die ſie, ſie moͤchte gegruͤndet oder ungegruͤndet ſeyn, allemal des-
wegen zu verdienen ſcheint, weil wenigſtens vierzig bis funfzig Schriftſteller aus allen Natio-
nen
Phyſ. Fragm. I. Verſuch. D
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