Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775.III. Fragment. Ursachen Physiognomik, die ihn in seiner Blöße wahrnehmen könnte, lächerlich zu machen? und würde er'sthun, wenn er nicht heimlich wenigstens zum Theil glaubte, und besorgte, daß doch etwas an der Sache seyn möchte? Wenn der Geiz keine verrätherische Merkmale hat, warum wird ihm so ängstlich, wenn man von erkennbaren Merkmalen des Geizes redet? -- Wer sich noch nicht als den Sklaven einer heftigen unedeln Leidenschaft bekannt gemacht hat; -- wem alles dran liegt, daß diese seine schwache Seite nicht bekannt werde; -- der wird, je fester er an die Wahrheit der Physiognomie glaubt, um so viel mehr dagegen einzuwenden wissen. Und gerade diesen heftigen Eifer der Lasterhaften wider die Physiognomik seh' ich als einen Zugabe.
III. Fragment. Urſachen Phyſiognomik, die ihn in ſeiner Bloͤße wahrnehmen koͤnnte, laͤcherlich zu machen? und wuͤrde er'sthun, wenn er nicht heimlich wenigſtens zum Theil glaubte, und beſorgte, daß doch etwas an der Sache ſeyn moͤchte? Wenn der Geiz keine verraͤtheriſche Merkmale hat, warum wird ihm ſo aͤngſtlich, wenn man von erkennbaren Merkmalen des Geizes redet? — Wer ſich noch nicht als den Sklaven einer heftigen unedeln Leidenſchaft bekannt gemacht hat; — wem alles dran liegt, daß dieſe ſeine ſchwache Seite nicht bekannt werde; — der wird, je feſter er an die Wahrheit der Phyſiognomie glaubt, um ſo viel mehr dagegen einzuwenden wiſſen. Und gerade dieſen heftigen Eifer der Laſterhaften wider die Phyſiognomik ſeh' ich als einen Zugabe.
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III. Fragment. Urſachen
Phyſiognomik, die ihn in ſeiner Bloͤße wahrnehmen koͤnnte, laͤcherlich zu machen? und wuͤrde er's
thun, wenn er nicht heimlich wenigſtens zum Theil glaubte, und beſorgte, daß doch etwas an der
Sache ſeyn moͤchte? Wenn der Geiz keine verraͤtheriſche Merkmale hat, warum wird ihm ſo
aͤngſtlich, wenn man von erkennbaren Merkmalen des Geizes redet? — Wer ſich noch
nicht als den Sklaven einer heftigen unedeln Leidenſchaft bekannt gemacht hat; — wem alles
dran liegt, daß dieſe ſeine ſchwache Seite nicht bekannt werde; — der wird, je feſter er an die
Wahrheit der Phyſiognomie glaubt, um ſo viel mehr dagegen einzuwenden wiſſen.
Und gerade dieſen heftigen Eifer der Laſterhaften wider die Phyſiognomik ſeh' ich als einen
merkwuͤrdigen Beweis ihres geheimen Glaubens an dieſelbe an. Sie ſehen an andern Menſchen
die Wahrheit derſelben, und fuͤrchten um ſo viel mehr, daß andre an ihnen nicht weniger Beweiſe
fuͤr ihre Wahrheit finden duͤrften. Dieß wird um ſo viel wahrſcheinlicher, weil ich ſicherlich weiß,
daß eben die Leute, die oͤffentlich am meiſten druͤber ſpotten, dennoch groͤßtentheils von einer un-
uͤberwindlichen Neugier getrieben werden, phyſiognomiſche Urtheile zu leſen, und zu hoͤren; und
ich darf mich ſicherlich auf jeden Leſer, der wider die Phyſiognomik eingenommen iſt, oder es
zu ſeyn affektirt — berufen, ob er nicht heimlich wuͤnſche, daß jemand, der ihn nicht perſonlich
kennte, und ſeinen Namen nicht wuͤßte, ſondern nur etwa ein Bild von ihm haͤtte, ihm den Com-
mentar uͤber ſeine Phyſiognomie machte? Und, fragen moͤcht' ich, ob irgend einer, der vorgiebt,
„er halte die ganze Sache fuͤr eine Grille, die keiner Aufmerkſamkeit werth ſey“ — deswegen
dieſe Fragmente nicht leſen werde? — O ich weiß — ich weißage es, ohn' ein Prophet zu ſeyn: —
Jhr, heftigſten Eiferer wider die Phyſiognomik, ihr werdet mich leſen und ſtudiren, mir oft bey-
ſtimmen — euch oft freuen, Bemerkungen ausgeſprochen zu finden, die ihr bey euch ſelbſt, ohne
ſie in Worte zu faſſen, gemacht habet — und dennoch — mich oͤffentlich widerlegen! Mir in
euerm Cabinette bisweilen bruͤderlich Beyfall zulaͤcheln, und dann uͤber eben das ſpotten, — was
ihr als Wahrheit fuͤhltet; — Jhr werdet von nun an mehrere Beobachtungen machen; fuͤr euch
ſelbſt ſicherer werden, und dennoch immer fortfahren, alle Beobachtungen laͤcherlich zu machen;
denn es gehoͤrt auch mit zu dem reſpektablen philoſophiſchen Bonton des Jahrhunderts — „oͤffent-
lich das mit Hohngelaͤchter anzufallen, was man heimlich glaubt, und glauben muß.“
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