Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775.der Verachtung der Physiognomik. Zugabe. Nun noch einige Worte von der Gleichgültigkeit gegen die Physiognomik, denn diese und Auch hat ein großer Theil Menschen vor der Physiognomik als einer geheimnißvol- Lassen D 3
der Verachtung der Phyſiognomik. Zugabe. Nun noch einige Worte von der Gleichguͤltigkeit gegen die Phyſiognomik, denn dieſe und Auch hat ein großer Theil Menſchen vor der Phyſiognomik als einer geheimnißvol- Laſſen D 3
<TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0045" n="21"/> <fw place="top" type="header"> <hi rendition="#b"><hi rendition="#g">der Verachtung der Phyſiognomik</hi>.</hi> </fw><lb/> <div n="3"> <head> <hi rendition="#b"><hi rendition="#g">Zugabe</hi>.</hi> </head><lb/> <p>Nun noch einige Worte von der Gleichguͤltigkeit gegen die Phyſiognomik, denn dieſe und<lb/> nicht ſo wohl Verachtung und Haß werden wir bey den meiſten Menſchen antreffen. Es iſt ein<lb/> Gluͤck fuͤr die Welt, daß die wenigſten Menſchen zu Beobachtern gebohren ſind. Die guͤtige Vorſe-<lb/> hung hat jedem einen gewiſſen Trieb gegeben, ſo oder anders zu handeln, der denn auch einem je-<lb/> den durch die Welt hilft. Eben dieſer innere Trieb kombinirt auch mehr oder weniger die Erfah-<lb/> rungen, die der Menſch macht, ohne daß er ſich deſſen gewiſſermaßen ſelbſt bewußt iſt. Jeder hat<lb/> ſeinen eigenen Kreis von Wirkſamkeit, jeder ſeine eigene Freude und Leid, da er denn durch eine<lb/> gewiſſe Anzahl von Erfahrungen bemerkt, was ihm analog iſt, und ſo wird er nach und nach im<lb/> Lieben und Haſſen auf das feſteſte beſtaͤtigt. Und ſo iſt ſein Beduͤrfniß erfuͤllt, er empfindet auf<lb/> das deutlichſte, was die Dinge fuͤr ein Verhaͤltniß zu ihm haben, und daher kann es ihm einerley<lb/> ſeyn, was fuͤr ein Verhaͤltniß ſie unter einander haben moͤgen. Er fuͤhlt, daß dieß und jenes ſo<lb/> oder ſo auf ihn wirkt, und er fragt nicht, warum es ſo auf ihn wirkt, vielmehr laͤßt er ſich dadurch<lb/> auf ein oder die andre Weiſe beſtimmen. Und ſo begierig der Menſch zu ſeyn ſcheint, die wahre<lb/> Beſchaffenheit eines Dings, und die Urſachen ſeiner Wirkungen zu erkennen, ſo ſelten wird's doch<lb/> bey ihm unuͤberwindliches Beduͤrfniß. Wie viel tauſend Menſchen, ſelbſt die ſich einbilden, zu<lb/> denken und zu unterſuchen, beruhigen ſich mit einem <hi rendition="#aq">qui pro quo</hi> auf einem ganz beſchraͤnkten<lb/> Gemeinplatze. Alſo wie der Menſch ißt und trinkt und verdaut, ohne zu denken, daß er einen<lb/> Magen hat, alſo ſieht er, vernimmt er, handelt, und verbindet ſeine Erfahrungen, ohne ſich<lb/> deſſen eigentlich bewußt zu ſeyn. Eben ſo wirken auch die Zuͤge und das Betragen anderer<lb/> auf ihn, er fuͤhlt, wo er ſich naͤhern oder entfernen ſoll, oder vielmehr, es zieht ihn an, oder ſtoͤßt<lb/> ihn weg, und ſo bedarf er keiner Unterſuchung, keiner Erklaͤrung.</p><lb/> <p>Auch hat ein großer Theil Menſchen vor der Phyſiognomik als einer geheimnißvol-<lb/> len Wiſſenſchaft eine tiefe Ehrfurcht. Sie hoͤren von einem wunderbaren Phyſiognomiſten<lb/> mit eben ſo viel Vergnuͤgen erzaͤhlen, als von einem Zauberer oder Tauſendkuͤnſtler, und obgleich<lb/> mancher an der Untruͤglichkeit ſeiner Kenntniſſe zweifeln mag, ſo iſt doch nicht leicht einer, der nicht<lb/> was dran wendete, um ſich von ſo einem moraliſchen Zigeuner die gute Wahrheit ſagen zu laſſen.</p><lb/> <fw place="bottom" type="sig">D 3</fw> <fw place="bottom" type="catch">Laſſen</fw><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [21/0045]
der Verachtung der Phyſiognomik.
Zugabe.
Nun noch einige Worte von der Gleichguͤltigkeit gegen die Phyſiognomik, denn dieſe und
nicht ſo wohl Verachtung und Haß werden wir bey den meiſten Menſchen antreffen. Es iſt ein
Gluͤck fuͤr die Welt, daß die wenigſten Menſchen zu Beobachtern gebohren ſind. Die guͤtige Vorſe-
hung hat jedem einen gewiſſen Trieb gegeben, ſo oder anders zu handeln, der denn auch einem je-
den durch die Welt hilft. Eben dieſer innere Trieb kombinirt auch mehr oder weniger die Erfah-
rungen, die der Menſch macht, ohne daß er ſich deſſen gewiſſermaßen ſelbſt bewußt iſt. Jeder hat
ſeinen eigenen Kreis von Wirkſamkeit, jeder ſeine eigene Freude und Leid, da er denn durch eine
gewiſſe Anzahl von Erfahrungen bemerkt, was ihm analog iſt, und ſo wird er nach und nach im
Lieben und Haſſen auf das feſteſte beſtaͤtigt. Und ſo iſt ſein Beduͤrfniß erfuͤllt, er empfindet auf
das deutlichſte, was die Dinge fuͤr ein Verhaͤltniß zu ihm haben, und daher kann es ihm einerley
ſeyn, was fuͤr ein Verhaͤltniß ſie unter einander haben moͤgen. Er fuͤhlt, daß dieß und jenes ſo
oder ſo auf ihn wirkt, und er fragt nicht, warum es ſo auf ihn wirkt, vielmehr laͤßt er ſich dadurch
auf ein oder die andre Weiſe beſtimmen. Und ſo begierig der Menſch zu ſeyn ſcheint, die wahre
Beſchaffenheit eines Dings, und die Urſachen ſeiner Wirkungen zu erkennen, ſo ſelten wird's doch
bey ihm unuͤberwindliches Beduͤrfniß. Wie viel tauſend Menſchen, ſelbſt die ſich einbilden, zu
denken und zu unterſuchen, beruhigen ſich mit einem qui pro quo auf einem ganz beſchraͤnkten
Gemeinplatze. Alſo wie der Menſch ißt und trinkt und verdaut, ohne zu denken, daß er einen
Magen hat, alſo ſieht er, vernimmt er, handelt, und verbindet ſeine Erfahrungen, ohne ſich
deſſen eigentlich bewußt zu ſeyn. Eben ſo wirken auch die Zuͤge und das Betragen anderer
auf ihn, er fuͤhlt, wo er ſich naͤhern oder entfernen ſoll, oder vielmehr, es zieht ihn an, oder ſtoͤßt
ihn weg, und ſo bedarf er keiner Unterſuchung, keiner Erklaͤrung.
Auch hat ein großer Theil Menſchen vor der Phyſiognomik als einer geheimnißvol-
len Wiſſenſchaft eine tiefe Ehrfurcht. Sie hoͤren von einem wunderbaren Phyſiognomiſten
mit eben ſo viel Vergnuͤgen erzaͤhlen, als von einem Zauberer oder Tauſendkuͤnſtler, und obgleich
mancher an der Untruͤglichkeit ſeiner Kenntniſſe zweifeln mag, ſo iſt doch nicht leicht einer, der nicht
was dran wendete, um ſich von ſo einem moraliſchen Zigeuner die gute Wahrheit ſagen zu laſſen.
Laſſen
D 3
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |