Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775.Von der Wahrheit der Physiognomik. Jst nicht die ganze Natur Physiognomie? Oberfläche und Jnnhalt? Leib und Geist? Welche Kenntniß, die der Mensch immer besitzen mag, gründet sich nicht auf Aeußer- Die Physiognomik in weiterm und engerm Verstande ist die Seele aller mensch- Von der Wiege an bis zum Grabe, in allen Ständen und Altern, bey allen Jedes Jnsekt kennt seinen Freund und seinen Feind; jedes Kind liebet oder fürchtet, Selbst die so sehr der Physiognomik entgegengeworfne Verstellungskunst gründet sich Welcher Richter -- von Verstand und Unverstand -- er mag's sagen oder nicht, da- die Phys. Fragm. I. Versuch. H
Von der Wahrheit der Phyſiognomik. Jſt nicht die ganze Natur Phyſiognomie? Oberflaͤche und Jnnhalt? Leib und Geiſt? Welche Kenntniß, die der Menſch immer beſitzen mag, gruͤndet ſich nicht auf Aeußer- Die Phyſiognomik in weiterm und engerm Verſtande iſt die Seele aller menſch- Von der Wiege an bis zum Grabe, in allen Staͤnden und Altern, bey allen Jedes Jnſekt kennt ſeinen Freund und ſeinen Feind; jedes Kind liebet oder fuͤrchtet, Selbſt die ſo ſehr der Phyſiognomik entgegengeworfne Verſtellungskunſt gruͤndet ſich Welcher Richter — von Verſtand und Unverſtand — er mag's ſagen oder nicht, da- die Phyſ. Fragm. I. Verſuch. H
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Von der Wahrheit der Phyſiognomik.
Jſt nicht die ganze Natur Phyſiognomie? Oberflaͤche und Jnnhalt? Leib und Geiſt?
Aeußere Wirkung und innere Kraft? Unſichtbarer Anfang; ſichtbare Endung?
Welche Kenntniß, die der Menſch immer beſitzen mag, gruͤndet ſich nicht auf Aeußer-
lichkeit, auf Character, auf Verhaͤltniß des Sichtbaren zum Unſichtbaren, des Wahrnehmli-
chen zum Unwahrnehmlichen? —
Die Phyſiognomik in weiterm und engerm Verſtande iſt die Seele aller menſch-
lichen Urtheile, Beſtrebungen, Handlungen, Erwartungen, Furchten, Hoffnungen, aller ange-
nehmen und unangenehmen Empfindungen, welche durch Dinge außer uns veranlaſſet werden.
Von der Wiege an bis zum Grabe, in allen Staͤnden und Altern, bey allen
Nationen, von Adam an bis auf den letzten, der ſterben wird, vom Wurm an, den wir zer-
treten, bis auf den erhabenſten Weiſen, und warum nicht bis auf den Engel? warum nicht bis
auf Jeſum Chriſtum? — iſt die Phyſiognomie der Grund von allem, was wir thun und laſſen.
Jedes Jnſekt kennt ſeinen Freund und ſeinen Feind; jedes Kind liebet oder fuͤrchtet,
ohne zu wiſſen warum, durch die Phyſiognomik; und es lebt auf dem Erdboden kein Menſch,
der ſich nicht taͤglich durch die Phyſiognomie leiten laͤßt; kein Menſch, dem ſich nicht ein Ge-
ſicht vorzeichnen ließe, das ihm entweder aͤußerſt liebenswuͤrdig, oder aͤußerſt abſcheulich vor-
kommen muͤßte; kein Menſch, der nicht jeden Menſchen, der das erſtemal zu ihm kommt, mehr
oder minder anſchaut, mißt, vergleicht, und phyſiognomiſch beurtheilt, wenn er auch das
Wort Phyſiognomie in ſeinem Leben nie gehoͤret hat; kein Menſch, der nicht alle Sachen,
die ihm durch die Haͤnde gehen, phyſiognomiſch, das iſt, den innern Werth derſelben nach ih-
rem Aeußerlichen beurtheilt.
Selbſt die ſo ſehr der Phyſiognomik entgegengeworfne Verſtellungskunſt gruͤndet ſich
bloß auf die Phyſiognomik. Warum ahmt der Heuchler dem Redlichen nach? Als weil er,
und, wenn's noch ſo leiſe, noch ſo wenig herausgedacht waͤre, weil er denkt, aller Augen be-
merken den Character der Redlichkeit? —
Welcher Richter — von Verſtand und Unverſtand — er mag's ſagen oder nicht, da-
wider proteſtiren oder nicht, — richtet in dieſem Sinne nie nach dem Anſehen der Perſon?
Welcher kann, darf, ſoll ganz gleichguͤltig ſeyn, in Anſehung des Aeußerlichen der Perſonen,
die
Phyſ. Fragm. I. Verſuch. H
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