Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775.

Bild:
<< vorherige Seite
Von der Wahrheit der Physiognomik.

Jst nicht die ganze Natur Physiognomie? Oberfläche und Jnnhalt? Leib und Geist?
Aeußere Wirkung und innere Kraft? Unsichtbarer Anfang; sichtbare Endung?

Welche Kenntniß, die der Mensch immer besitzen mag, gründet sich nicht auf Aeußer-
lichkeit, auf Character, auf Verhältniß des Sichtbaren zum Unsichtbaren, des Wahrnehmli-
chen zum Unwahrnehmlichen? --

Die Physiognomik in weiterm und engerm Verstande ist die Seele aller mensch-
lichen Urtheile, Bestrebungen, Handlungen, Erwartungen, Furchten, Hoffnungen, aller ange-
nehmen und unangenehmen Empfindungen, welche durch Dinge außer uns veranlasset werden.

Von der Wiege an bis zum Grabe, in allen Ständen und Altern, bey allen
Nationen, von Adam an bis auf den letzten, der sterben wird, vom Wurm an, den wir zer-
treten, bis auf den erhabensten Weisen, und warum nicht bis auf den Engel? warum nicht bis
auf Jesum Christum? -- ist die Physiognomie der Grund von allem, was wir thun und lassen.

Jedes Jnsekt kennt seinen Freund und seinen Feind; jedes Kind liebet oder fürchtet,
ohne zu wissen warum, durch die Physiognomik; und es lebt auf dem Erdboden kein Mensch,
der sich nicht täglich durch die Physiognomie leiten läßt; kein Mensch, dem sich nicht ein Ge-
sicht vorzeichnen ließe, das ihm entweder äußerst liebenswürdig, oder äußerst abscheulich vor-
kommen müßte; kein Mensch, der nicht jeden Menschen, der das erstemal zu ihm kommt, mehr
oder minder anschaut, mißt, vergleicht, und physiognomisch beurtheilt, wenn er auch das
Wort Physiognomie in seinem Leben nie gehöret hat; kein Mensch, der nicht alle Sachen,
die ihm durch die Hände gehen, physiognomisch, das ist, den innern Werth derselben nach ih-
rem Aeußerlichen beurtheilt.

Selbst die so sehr der Physiognomik entgegengeworfne Verstellungskunst gründet sich
bloß auf die Physiognomik. Warum ahmt der Heuchler dem Redlichen nach? Als weil er,
und, wenn's noch so leise, noch so wenig herausgedacht wäre, weil er denkt, aller Augen be-
merken den Character der Redlichkeit? --

Welcher Richter -- von Verstand und Unverstand -- er mag's sagen oder nicht, da-
wider protestiren oder nicht, -- richtet in diesem Sinne nie nach dem Ansehen der Person?
Welcher kann, darf, soll ganz gleichgültig seyn, in Ansehung des Aeußerlichen der Personen,

die
Phys. Fragm. I. Versuch. H
Von der Wahrheit der Phyſiognomik.

Jſt nicht die ganze Natur Phyſiognomie? Oberflaͤche und Jnnhalt? Leib und Geiſt?
Aeußere Wirkung und innere Kraft? Unſichtbarer Anfang; ſichtbare Endung?

Welche Kenntniß, die der Menſch immer beſitzen mag, gruͤndet ſich nicht auf Aeußer-
lichkeit, auf Character, auf Verhaͤltniß des Sichtbaren zum Unſichtbaren, des Wahrnehmli-
chen zum Unwahrnehmlichen? —

Die Phyſiognomik in weiterm und engerm Verſtande iſt die Seele aller menſch-
lichen Urtheile, Beſtrebungen, Handlungen, Erwartungen, Furchten, Hoffnungen, aller ange-
nehmen und unangenehmen Empfindungen, welche durch Dinge außer uns veranlaſſet werden.

Von der Wiege an bis zum Grabe, in allen Staͤnden und Altern, bey allen
Nationen, von Adam an bis auf den letzten, der ſterben wird, vom Wurm an, den wir zer-
treten, bis auf den erhabenſten Weiſen, und warum nicht bis auf den Engel? warum nicht bis
auf Jeſum Chriſtum? — iſt die Phyſiognomie der Grund von allem, was wir thun und laſſen.

Jedes Jnſekt kennt ſeinen Freund und ſeinen Feind; jedes Kind liebet oder fuͤrchtet,
ohne zu wiſſen warum, durch die Phyſiognomik; und es lebt auf dem Erdboden kein Menſch,
der ſich nicht taͤglich durch die Phyſiognomie leiten laͤßt; kein Menſch, dem ſich nicht ein Ge-
ſicht vorzeichnen ließe, das ihm entweder aͤußerſt liebenswuͤrdig, oder aͤußerſt abſcheulich vor-
kommen muͤßte; kein Menſch, der nicht jeden Menſchen, der das erſtemal zu ihm kommt, mehr
oder minder anſchaut, mißt, vergleicht, und phyſiognomiſch beurtheilt, wenn er auch das
Wort Phyſiognomie in ſeinem Leben nie gehoͤret hat; kein Menſch, der nicht alle Sachen,
die ihm durch die Haͤnde gehen, phyſiognomiſch, das iſt, den innern Werth derſelben nach ih-
rem Aeußerlichen beurtheilt.

Selbſt die ſo ſehr der Phyſiognomik entgegengeworfne Verſtellungskunſt gruͤndet ſich
bloß auf die Phyſiognomik. Warum ahmt der Heuchler dem Redlichen nach? Als weil er,
und, wenn's noch ſo leiſe, noch ſo wenig herausgedacht waͤre, weil er denkt, aller Augen be-
merken den Character der Redlichkeit? —

Welcher Richter — von Verſtand und Unverſtand — er mag's ſagen oder nicht, da-
wider proteſtiren oder nicht, — richtet in dieſem Sinne nie nach dem Anſehen der Perſon?
Welcher kann, darf, ſoll ganz gleichguͤltig ſeyn, in Anſehung des Aeußerlichen der Perſonen,

die
Phyſ. Fragm. I. Verſuch. H
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0073" n="49"/>
          <fw place="top" type="header"> <hi rendition="#b">Von der Wahrheit der Phy&#x017F;iognomik.</hi> </fw><lb/>
          <p>J&#x017F;t nicht die ganze Natur Phy&#x017F;iognomie? Oberfla&#x0364;che und Jnnhalt? Leib und Gei&#x017F;t?<lb/>
Aeußere Wirkung und innere Kraft? Un&#x017F;ichtbarer Anfang; &#x017F;ichtbare Endung?</p><lb/>
          <p>Welche Kenntniß, die der Men&#x017F;ch immer be&#x017F;itzen mag, gru&#x0364;ndet &#x017F;ich nicht auf Aeußer-<lb/>
lichkeit, auf Character, auf Verha&#x0364;ltniß des Sichtbaren zum Un&#x017F;ichtbaren, des Wahrnehmli-<lb/>
chen zum Unwahrnehmlichen? &#x2014;</p><lb/>
          <p>Die Phy&#x017F;iognomik in weiterm und engerm Ver&#x017F;tande i&#x017F;t die Seele aller men&#x017F;ch-<lb/>
lichen Urtheile, Be&#x017F;trebungen, Handlungen, Erwartungen, Furchten, Hoffnungen, aller ange-<lb/>
nehmen und unangenehmen Empfindungen, welche durch Dinge außer uns veranla&#x017F;&#x017F;et werden.</p><lb/>
          <p>Von der Wiege an bis zum Grabe, in allen Sta&#x0364;nden und Altern, bey allen<lb/>
Nationen, von Adam an bis auf den letzten, der &#x017F;terben wird, vom Wurm an, den wir zer-<lb/>
treten, bis auf den erhaben&#x017F;ten Wei&#x017F;en, und warum nicht bis auf den Engel? warum nicht bis<lb/>
auf Je&#x017F;um Chri&#x017F;tum? &#x2014; i&#x017F;t die Phy&#x017F;iognomie der Grund von allem, was wir thun und la&#x017F;&#x017F;en.</p><lb/>
          <p>Jedes Jn&#x017F;ekt kennt &#x017F;einen Freund und &#x017F;einen Feind; jedes Kind liebet oder fu&#x0364;rchtet,<lb/>
ohne zu wi&#x017F;&#x017F;en warum, durch die Phy&#x017F;iognomik; und es lebt auf dem Erdboden kein Men&#x017F;ch,<lb/>
der &#x017F;ich nicht ta&#x0364;glich durch die Phy&#x017F;iognomie leiten la&#x0364;ßt; kein Men&#x017F;ch, dem &#x017F;ich nicht ein Ge-<lb/>
&#x017F;icht vorzeichnen ließe, das ihm entweder a&#x0364;ußer&#x017F;t liebenswu&#x0364;rdig, oder a&#x0364;ußer&#x017F;t ab&#x017F;cheulich vor-<lb/>
kommen mu&#x0364;ßte; kein Men&#x017F;ch, der nicht jeden Men&#x017F;chen, der das er&#x017F;temal zu ihm kommt, mehr<lb/>
oder minder <hi rendition="#fr">an&#x017F;chaut, mißt, vergleicht,</hi> und phy&#x017F;iognomi&#x017F;ch beurtheilt, wenn er auch das<lb/>
Wort <hi rendition="#fr">Phy&#x017F;iognomie</hi> in &#x017F;einem Leben nie geho&#x0364;ret hat; kein Men&#x017F;ch, der nicht alle Sachen,<lb/>
die ihm durch die Ha&#x0364;nde gehen, phy&#x017F;iognomi&#x017F;ch, das i&#x017F;t, den innern Werth der&#x017F;elben nach ih-<lb/>
rem Aeußerlichen beurtheilt.</p><lb/>
          <p>Selb&#x017F;t die &#x017F;o &#x017F;ehr der Phy&#x017F;iognomik entgegengeworfne Ver&#x017F;tellungskun&#x017F;t gru&#x0364;ndet &#x017F;ich<lb/>
bloß auf die Phy&#x017F;iognomik. Warum ahmt der Heuchler dem Redlichen nach? Als weil er,<lb/>
und, wenn's noch &#x017F;o lei&#x017F;e, noch &#x017F;o wenig herausgedacht wa&#x0364;re, weil er denkt, aller Augen be-<lb/>
merken den Character der Redlichkeit? &#x2014;</p><lb/>
          <p>Welcher <hi rendition="#fr">Richter</hi> &#x2014; von Ver&#x017F;tand und Unver&#x017F;tand &#x2014; er mag's &#x017F;agen oder nicht, da-<lb/>
wider prote&#x017F;tiren oder nicht, &#x2014; richtet in die&#x017F;em Sinne nie nach dem An&#x017F;ehen der Per&#x017F;on?<lb/>
Welcher kann, darf, &#x017F;oll ganz gleichgu&#x0364;ltig &#x017F;eyn, in An&#x017F;ehung des Aeußerlichen der Per&#x017F;onen,<lb/>
<fw place="bottom" type="sig"><hi rendition="#fr">Phy&#x017F;. Fragm.</hi><hi rendition="#aq">I.</hi><hi rendition="#fr">Ver&#x017F;uch.</hi> H</fw><fw place="bottom" type="catch">die</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[49/0073] Von der Wahrheit der Phyſiognomik. Jſt nicht die ganze Natur Phyſiognomie? Oberflaͤche und Jnnhalt? Leib und Geiſt? Aeußere Wirkung und innere Kraft? Unſichtbarer Anfang; ſichtbare Endung? Welche Kenntniß, die der Menſch immer beſitzen mag, gruͤndet ſich nicht auf Aeußer- lichkeit, auf Character, auf Verhaͤltniß des Sichtbaren zum Unſichtbaren, des Wahrnehmli- chen zum Unwahrnehmlichen? — Die Phyſiognomik in weiterm und engerm Verſtande iſt die Seele aller menſch- lichen Urtheile, Beſtrebungen, Handlungen, Erwartungen, Furchten, Hoffnungen, aller ange- nehmen und unangenehmen Empfindungen, welche durch Dinge außer uns veranlaſſet werden. Von der Wiege an bis zum Grabe, in allen Staͤnden und Altern, bey allen Nationen, von Adam an bis auf den letzten, der ſterben wird, vom Wurm an, den wir zer- treten, bis auf den erhabenſten Weiſen, und warum nicht bis auf den Engel? warum nicht bis auf Jeſum Chriſtum? — iſt die Phyſiognomie der Grund von allem, was wir thun und laſſen. Jedes Jnſekt kennt ſeinen Freund und ſeinen Feind; jedes Kind liebet oder fuͤrchtet, ohne zu wiſſen warum, durch die Phyſiognomik; und es lebt auf dem Erdboden kein Menſch, der ſich nicht taͤglich durch die Phyſiognomie leiten laͤßt; kein Menſch, dem ſich nicht ein Ge- ſicht vorzeichnen ließe, das ihm entweder aͤußerſt liebenswuͤrdig, oder aͤußerſt abſcheulich vor- kommen muͤßte; kein Menſch, der nicht jeden Menſchen, der das erſtemal zu ihm kommt, mehr oder minder anſchaut, mißt, vergleicht, und phyſiognomiſch beurtheilt, wenn er auch das Wort Phyſiognomie in ſeinem Leben nie gehoͤret hat; kein Menſch, der nicht alle Sachen, die ihm durch die Haͤnde gehen, phyſiognomiſch, das iſt, den innern Werth derſelben nach ih- rem Aeußerlichen beurtheilt. Selbſt die ſo ſehr der Phyſiognomik entgegengeworfne Verſtellungskunſt gruͤndet ſich bloß auf die Phyſiognomik. Warum ahmt der Heuchler dem Redlichen nach? Als weil er, und, wenn's noch ſo leiſe, noch ſo wenig herausgedacht waͤre, weil er denkt, aller Augen be- merken den Character der Redlichkeit? — Welcher Richter — von Verſtand und Unverſtand — er mag's ſagen oder nicht, da- wider proteſtiren oder nicht, — richtet in dieſem Sinne nie nach dem Anſehen der Perſon? Welcher kann, darf, ſoll ganz gleichguͤltig ſeyn, in Anſehung des Aeußerlichen der Perſonen, die Phyſ. Fragm. I. Verſuch. H

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente01_1775
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente01_1775/73
Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775, S. 49. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente01_1775/73>, abgerufen am 21.11.2024.