Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775.VII. Fragment. die ihm vorgestellt werden? *) -- Welcher Regent erwählt einen Minister, ohne auf seinAeußerliches mit ein Auge zu werfen, und ihn darnach, wenigstens zum Theil, wenigstens bey sich selbst zu beurtheilen? Der Officier wählt keinen Soldaten, ohn' auf sein Aeußerliches -- die Länge nicht gerechnet, mit zu sehen. Welcher Hausvater wählt einen Bedienten, welche Frau eine Magd, daß ihr Aeußerliches, daß ihre Gesichtsbildung, sie mögen richtig oder un- richtig urtheilen, mögen sichs bewußt oder unbewußt seyn, -- bey der Wahl nicht mit in An- schlag komme? Blos das flüchtige Andenken an die unzähligen vor Augen liegenden Beyspiele, die das Wer Augen hat zu sehen, der sehe, wen aber das Licht, nahe vors Gesicht gehalten, Jnnere, *) Ac mihi quidem cum illa certissima sunt visa
argumenta, atque indicia sceleris, tabellae, signa, manus, denique vnius cujusque confessio: tum multo certiora illa, color, oculi, vultus, tacitur-[Spaltenumbruch] nitas. Sic enim constupuerant, sic terram intueban- tur, sic furtim nonnunquam inter se conspiciebant, vt non ab aliis judicari, sed ipsi a se viderentur. Cicero. Conscientia eminet in vultu. Seneca. VII. Fragment. die ihm vorgeſtellt werden? *) — Welcher Regent erwaͤhlt einen Miniſter, ohne auf ſeinAeußerliches mit ein Auge zu werfen, und ihn darnach, wenigſtens zum Theil, wenigſtens bey ſich ſelbſt zu beurtheilen? Der Officier waͤhlt keinen Soldaten, ohn' auf ſein Aeußerliches — die Laͤnge nicht gerechnet, mit zu ſehen. Welcher Hausvater waͤhlt einen Bedienten, welche Frau eine Magd, daß ihr Aeußerliches, daß ihre Geſichtsbildung, ſie moͤgen richtig oder un- richtig urtheilen, moͤgen ſichs bewußt oder unbewußt ſeyn, — bey der Wahl nicht mit in An- ſchlag komme? Blos das fluͤchtige Andenken an die unzaͤhligen vor Augen liegenden Beyſpiele, die das Wer Augen hat zu ſehen, der ſehe, wen aber das Licht, nahe vors Geſicht gehalten, Jnnere, *) Ac mihi quidem cum illa certiſſima ſunt viſa
argumenta, atque indicia ſceleris, tabellae, ſigna, manus, denique vnius cujusque confeſſio: tum multo certiora illa, color, oculi, vultus, tacitur-[Spaltenumbruch] nitas. Sic enim conſtupuerant, ſic terram intueban- tur, ſic furtim nonnunquam inter ſe conſpiciebant, vt non ab aliis judicari, ſed ipſi a ſe viderentur. Cicero. Conſcientia eminet in vultu. Seneca. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0074" n="50"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b"><hi rendition="#aq">VII.</hi><hi rendition="#g">Fragment</hi>.</hi></fw><lb/> die ihm vorgeſtellt werden? <note place="foot" n="*)"><hi rendition="#aq">Ac mihi quidem cum illa certiſſima ſunt viſa<lb/> argumenta, atque indicia ſceleris, tabellae, ſigna,<lb/> manus, denique vnius cujusque confeſſio: tum<lb/> multo certiora illa, color, oculi, vultus, tacitur-<cb/><lb/> nitas. Sic enim conſtupuerant, ſic terram intueban-<lb/> tur, ſic furtim nonnunquam inter ſe conſpiciebant, vt<lb/> non ab aliis judicari, ſed ipſi a ſe viderentur. <hi rendition="#i">Cicero.</hi><lb/> Conſcientia eminet in vultu. <hi rendition="#i">Seneca.</hi></hi></note> — Welcher <hi rendition="#fr">Regent</hi> erwaͤhlt einen Miniſter, ohne auf ſein<lb/> Aeußerliches mit ein Auge zu werfen, und ihn darnach, wenigſtens zum Theil, wenigſtens bey<lb/> ſich ſelbſt zu beurtheilen? Der <hi rendition="#fr">Officier</hi> waͤhlt keinen Soldaten, ohn' auf ſein Aeußerliches —<lb/> die Laͤnge nicht gerechnet, mit zu ſehen. Welcher <hi rendition="#fr">Hausvater</hi> waͤhlt einen Bedienten, welche<lb/><hi rendition="#fr">Frau</hi> eine Magd, daß ihr Aeußerliches, daß ihre Geſichtsbildung, ſie moͤgen richtig oder un-<lb/> richtig urtheilen, moͤgen ſichs bewußt oder unbewußt ſeyn, — bey der Wahl nicht mit in An-<lb/> ſchlag komme?</p><lb/> <p>Blos das fluͤchtige Andenken an die unzaͤhligen vor Augen liegenden Beyſpiele, die das<lb/> allgemeine ſtillſchweigende Eingeſtaͤndniß aller Menſchen, daß ſie ganz von der Phyſiognomie<lb/> geleitet werden, unwiderſprechlich beſtaͤtigen, ermuͤdet mich, und Widerwillen ergreift mich,<lb/> daß ich, um Gelehrte von Wahrheiten zu uͤberzeugen, Dinge ſchreiben muß, die jedes Kind<lb/> weiß, oder wiſſen kann.</p><lb/> <p>Wer Augen hat zu ſehen, der ſehe, wen aber das Licht, nahe vors Geſicht gehalten,<lb/> toll macht, der mag mit der Fauſt drein ſchlagen, und ſich die Finger dran verbrennen. Jch<lb/> rede nicht gern dieſe Sprache; aber ich darf, ich muß dreiſte reden, weil ich deſſen, was ich<lb/> ſage und ſagen werde, gewiß bin, und weil ich im Stande zu ſeyn glaube, mich der Ueberzeu-<lb/> gung aller redlichen und aufmerkſamen Freunde der Wahrheit durch Gruͤnde, die ſchwerlich zu<lb/> widerlegen ſeyn duͤrften, bemaͤchtigen zu koͤnnen, und weil ich es nicht fuͤr unwichtig halte, den<lb/> muthwilligen Kitzel einiger großen Tongeber zur beſcheidenen Zuruͤckhaltung ihrer deſpotiſchen Ur-<lb/> theile herabzuſtimmen. Es bleibt alſo dabey, nicht deswegen, weil ich es ſage, ſondern, weil's<lb/> auffallend wahr iſt — weil's wahr ſeyn wuͤrde, wenn's nicht geſagt wuͤrde — Es bleibt alſo<lb/> dabey, daß die <hi rendition="#fr">Phyſiognomie</hi> alle Menſchen, ſie moͤgen's wiſſen, oder nicht, taͤglich leitet —<lb/> daß, wie <hi rendition="#fr">Sulzer</hi> ſagt, jeder Menſch, er mag's wiſſen, oder nicht, etwas von der Phyſiogno-<lb/> mik verſteht; daß nicht <hi rendition="#fr">ein</hi> lebendiges Weſen iſt, welches nicht aus dem Aeußerlichen auf das<lb/> <fw place="bottom" type="catch">Jnnere,</fw><lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [50/0074]
VII. Fragment.
die ihm vorgeſtellt werden? *) — Welcher Regent erwaͤhlt einen Miniſter, ohne auf ſein
Aeußerliches mit ein Auge zu werfen, und ihn darnach, wenigſtens zum Theil, wenigſtens bey
ſich ſelbſt zu beurtheilen? Der Officier waͤhlt keinen Soldaten, ohn' auf ſein Aeußerliches —
die Laͤnge nicht gerechnet, mit zu ſehen. Welcher Hausvater waͤhlt einen Bedienten, welche
Frau eine Magd, daß ihr Aeußerliches, daß ihre Geſichtsbildung, ſie moͤgen richtig oder un-
richtig urtheilen, moͤgen ſichs bewußt oder unbewußt ſeyn, — bey der Wahl nicht mit in An-
ſchlag komme?
Blos das fluͤchtige Andenken an die unzaͤhligen vor Augen liegenden Beyſpiele, die das
allgemeine ſtillſchweigende Eingeſtaͤndniß aller Menſchen, daß ſie ganz von der Phyſiognomie
geleitet werden, unwiderſprechlich beſtaͤtigen, ermuͤdet mich, und Widerwillen ergreift mich,
daß ich, um Gelehrte von Wahrheiten zu uͤberzeugen, Dinge ſchreiben muß, die jedes Kind
weiß, oder wiſſen kann.
Wer Augen hat zu ſehen, der ſehe, wen aber das Licht, nahe vors Geſicht gehalten,
toll macht, der mag mit der Fauſt drein ſchlagen, und ſich die Finger dran verbrennen. Jch
rede nicht gern dieſe Sprache; aber ich darf, ich muß dreiſte reden, weil ich deſſen, was ich
ſage und ſagen werde, gewiß bin, und weil ich im Stande zu ſeyn glaube, mich der Ueberzeu-
gung aller redlichen und aufmerkſamen Freunde der Wahrheit durch Gruͤnde, die ſchwerlich zu
widerlegen ſeyn duͤrften, bemaͤchtigen zu koͤnnen, und weil ich es nicht fuͤr unwichtig halte, den
muthwilligen Kitzel einiger großen Tongeber zur beſcheidenen Zuruͤckhaltung ihrer deſpotiſchen Ur-
theile herabzuſtimmen. Es bleibt alſo dabey, nicht deswegen, weil ich es ſage, ſondern, weil's
auffallend wahr iſt — weil's wahr ſeyn wuͤrde, wenn's nicht geſagt wuͤrde — Es bleibt alſo
dabey, daß die Phyſiognomie alle Menſchen, ſie moͤgen's wiſſen, oder nicht, taͤglich leitet —
daß, wie Sulzer ſagt, jeder Menſch, er mag's wiſſen, oder nicht, etwas von der Phyſiogno-
mik verſteht; daß nicht ein lebendiges Weſen iſt, welches nicht aus dem Aeußerlichen auf das
Jnnere,
*) Ac mihi quidem cum illa certiſſima ſunt viſa
argumenta, atque indicia ſceleris, tabellae, ſigna,
manus, denique vnius cujusque confeſſio: tum
multo certiora illa, color, oculi, vultus, tacitur-
nitas. Sic enim conſtupuerant, ſic terram intueban-
tur, ſic furtim nonnunquam inter ſe conſpiciebant, vt
non ab aliis judicari, ſed ipſi a ſe viderentur. Cicero.
Conſcientia eminet in vultu. Seneca.
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |