Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 2. Leipzig u. a., 1776.Ueber die Porträtmahlerey. lerischen Munde hat, das ist, von dem Munde, wie der Mahler ohne anatomische Kenntniß ihnsehen könnte, sehen sollte? Es ist unglaublich, aber es ist wahr. Es verhält sich hiemit, wie mit allen menschlichen Man durchgehe dreyßig, vierzig Bände der trefflichsten Porträte von den größten Mei- Ohne genaue Kenntniß des Verhältnisses der ganzen Gesichtsglieder, wie z. E. der Augen, Ohne *) Worinn diese allgemeinen Züge des Mundes bestehen, wird an seinem Orte gezeigt werden. L 2
Ueber die Portraͤtmahlerey. leriſchen Munde hat, das iſt, von dem Munde, wie der Mahler ohne anatomiſche Kenntniß ihnſehen koͤnnte, ſehen ſollte? Es iſt unglaublich, aber es iſt wahr. Es verhaͤlt ſich hiemit, wie mit allen menſchlichen Man durchgehe dreyßig, vierzig Baͤnde der trefflichſten Portraͤte von den groͤßten Mei- Ohne genaue Kenntniß des Verhaͤltniſſes der ganzen Geſichtsglieder, wie z. E. der Augen, Ohne *) Worinn dieſe allgemeinen Zuͤge des Mundes beſtehen, wird an ſeinem Orte gezeigt werden. L 2
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Ueber die Portraͤtmahlerey.
leriſchen Munde hat, das iſt, von dem Munde, wie der Mahler ohne anatomiſche Kenntniß ihn
ſehen koͤnnte, ſehen ſollte?
Es iſt unglaublich, aber es iſt wahr. Es verhaͤlt ſich hiemit, wie mit allen menſchlichen
Wiſſenſchaften und Kuͤnſten — von der Theologie bis zur Schuhmacherkunſt — Man ſpricht im-
mer nach, arbeitet immer nach, und faͤngt nie von vornen an, ohn’ alle alle Vorausſetzung, friſch
auf zu unterſuchen — daher die allgemeine unendliche Stuͤmperey und Bodenloſigkeit, auf der wir
herum tanzen!
Man durchgehe dreyßig, vierzig Baͤnde der trefflichſten Portraͤte von den groͤßten Mei-
ſtern, und unterſuche — (ich hab’ unterſucht, und darf alſo kuͤhn ſprechen) wie geſagt, nur z. E. den
Mund. *) Studiere vorher an neugebornen Kindern, Knaben, Juͤnglingen, Maͤnnern, Grei-
ſen, Jungfrauen, Frauen, Matronen — das Allgemeine des Mundes, und wenn man’s ge-
funden hat, ſo vergleiche man — und man wird ſehen, daß den meiſten, daß beynah allen Mah-
lern die Theorie des Allgemeinen des Mundes fehlet, und daß es ſehr ſelten geſchieht, wenn’s
geſchieht, bloß zufaͤlligerweiſe zu geſchehen ſcheint, daß ein Meiſter dieß Allgemeine richtig gefaßt
hat? Und wie unbeſchreiblich viel beruhet auf dem? Was iſt alles Beſondere, alles Charakteriſti-
ſche anders, als Nuͤancen des Allgemeinen? ... Und wie’s in Anſehung des Mundes iſt, ſo in
Anſehung der Augen, der Augenbraunen, der Naſe und jedes Gliedes oder Geſichtstheils.... Ge-
rade ſo ein Verhaͤltniß, wie die Geſichtsglieder z. E. gegen einander haben, gerade wie dieß Ver-
haͤltniß bey allen, noch ſo verſchiedenen, Geſichtern allgemein iſt, gerade ſo ein Verhaͤltniß iſt in den
einzelnen kleinern Zuͤgen eines jeglichen Geſichtsgliedes; — unendlich verſchieden iſt die Verſchie-
bung der ganzen Geſichtsglieder gegen einander bey derſelben allgemeinen Proportion; und ſo
unendlich verſchieden auch die Nuͤancirung der kleinern Zuͤge in jedem Geſichtsgliede — bey derſel-
ben allgemeinen Aehnlichkeit.
Ohne genaue Kenntniß des Verhaͤltniſſes der ganzen Geſichtsglieder, wie z. E. der Augen,
des Mundes, gegen einander, wird’s immer bloßer Zufall, und hoͤchſtſeltener Zufall ſeyn, daß
dieß Verhaͤltniß in den Werken des Mahlers zum Vorſchein komme.
Ohne
*) Worinn dieſe allgemeinen Zuͤge des Mundes beſtehen, wird an ſeinem Orte gezeigt werden.
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