Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 2. Leipzig u. a., 1776.IX. Fragment. Der Jnsektenmahler, der keine genaue Jnsektenkenntniß hat, nicht den Bau, das Allge- Wer sich die Mühe nehmen mag, einen Hausen der verschiedensten, unausgesuchtesten Was hilft nun alle Kenntniß der größern Proportionen des menschlichen Körpers und lerischen
IX. Fragment. Der Jnſektenmahler, der keine genaue Jnſektenkenntniß hat, nicht den Bau, das Allge- Wer ſich die Muͤhe nehmen mag, einen Hauſen der verſchiedenſten, unausgeſuchteſten Was hilft nun alle Kenntniß der groͤßern Proportionen des menſchlichen Koͤrpers und leriſchen
<TEI> <text> <body> <div n="2"> <pb facs="#f0110" n="82"/> <fw place="top" type="header"> <hi rendition="#b"> <hi rendition="#g"><hi rendition="#aq">IX.</hi> Fragment.</hi> </hi> </fw><lb/> <p>Der Jnſektenmahler, der keine genaue Jnſektenkenntniß hat, nicht den Bau, das Allge-<lb/> meine, das Beſondere, das Eigenthuͤmliche jedes Jnſektes kennt, wird, wenn er ſonſt uͤberhaupt<lb/> auch noch ſo ein guter Copiſt iſt — unfehlbar ſchlecht Jnſekten mahlen. Der Portraͤtmahler koͤnne<lb/> noch ſo genau copieren — (eine Sache, die jedoch weit ſeltener iſt, als ſelber große Kenner der<lb/> Zeichnung denken moͤgen —) er wird ſchlechte Portraͤte mahlen; wenn er nicht die genaueſte Kennt-<lb/> niß hat von dem Bau, der Proportion, dem Zuſammenhange, der Gegeneinanderwuͤrkung der<lb/> groͤbern und feinern Theile des menſchlichen Koͤrpers, in ſo fern ſie auf die Oberflaͤche einen merk-<lb/> baren Einfluß haben; wenn er nicht den Bau jedes einzelnen Gliedes und Geſichtstheiles aufs ge-<lb/> naueſte ergruͤndet hat; etwas, das ich noch ſchlechterdings an keinem einzigen mir bekannt geworde-<lb/> nen Portraͤtmahler gefunden habe. Jch ſelbſt, ſo ſehr ich’s ſeyn ſollte, bin nichts weniger als ein<lb/> genauer Kenner aller feinern, ſpecifiken Zuͤge jedes Sinnes, jedes Gliedes, jedes Geſichttheiles —<lb/> und dennoch bemerk’ ich taͤglich, daß dieſe feinere, dieſe ſchlechterdings unentbehrliche Kenntniß<lb/> uͤberall noch unbearbeitet, unbekannt, und ſelbſt einſichtsvollen Mahlern kaum beyzubringen iſt.</p><lb/> <p>Wer ſich die Muͤhe nehmen mag, einen Hauſen der verſchiedenſten, unausgeſuchteſten<lb/> Menſchen ſtuͤckweiſe zu betrachten, der wird finden, daß z. E. jedes Ohr, jeder Mund, bey aller<lb/> Verſchiedenheit — dennoch ſeine kleinen Beugungen, Eckgen, Charaktere hat, die allen gemein<lb/> ſind — die ſtaͤrker oder ſchwaͤcher, ſchaͤrfer oder ſtumpfer durchaus bey allen Menſchen, die nicht<lb/> Mißgeburten, wenigſtens an dieſen Theilen ſind, angetroffen werden.</p><lb/> <p>Was hilft nun alle Kenntniß der groͤßern Proportionen des menſchlichen Koͤrpers und<lb/> menſchlichen Geſichtes — (die abermals noch bey weitem nicht tief genug ſtudiert ſind, und gewiß<lb/> noch ſcharfer Reviſion beduͤrften; ein kuͤnftiger phyſiognomiſcher Mahler wird dieſen Ausſpruch<lb/> rechtfertigen, und unterdeſſen mag dieß meinethalben bloß <hi rendition="#fr">abgeſprochen</hi> heißen —) Was hilft,<lb/> ſag’ ich, alle Kenntniß der groͤßern Proportionen, wenn die Kenntniß der feinern Zuͤge, die eben<lb/> ſo wahr, ſo allgemein, ſo beſtimmt, und nicht weniger bedeutend ſind, als die groͤßern — wenn<lb/> dieſe fehlt? und dieſe fehlt ſo ſehr, daß ich’s auf die Probe ankommen laſſen wollte, ob mancher der<lb/> geſchickteſten Mahler, der tauſend Portraͤte gemahlt hat, nur eine ertraͤglich beſtimmte allgemeine<lb/> Theorie von dem Munde z. E., nicht von dem innern Bau des Mundes, nein, nur von dem mah-<lb/> <fw place="bottom" type="catch">leriſchen</fw><lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [82/0110]
IX. Fragment.
Der Jnſektenmahler, der keine genaue Jnſektenkenntniß hat, nicht den Bau, das Allge-
meine, das Beſondere, das Eigenthuͤmliche jedes Jnſektes kennt, wird, wenn er ſonſt uͤberhaupt
auch noch ſo ein guter Copiſt iſt — unfehlbar ſchlecht Jnſekten mahlen. Der Portraͤtmahler koͤnne
noch ſo genau copieren — (eine Sache, die jedoch weit ſeltener iſt, als ſelber große Kenner der
Zeichnung denken moͤgen —) er wird ſchlechte Portraͤte mahlen; wenn er nicht die genaueſte Kennt-
niß hat von dem Bau, der Proportion, dem Zuſammenhange, der Gegeneinanderwuͤrkung der
groͤbern und feinern Theile des menſchlichen Koͤrpers, in ſo fern ſie auf die Oberflaͤche einen merk-
baren Einfluß haben; wenn er nicht den Bau jedes einzelnen Gliedes und Geſichtstheiles aufs ge-
naueſte ergruͤndet hat; etwas, das ich noch ſchlechterdings an keinem einzigen mir bekannt geworde-
nen Portraͤtmahler gefunden habe. Jch ſelbſt, ſo ſehr ich’s ſeyn ſollte, bin nichts weniger als ein
genauer Kenner aller feinern, ſpecifiken Zuͤge jedes Sinnes, jedes Gliedes, jedes Geſichttheiles —
und dennoch bemerk’ ich taͤglich, daß dieſe feinere, dieſe ſchlechterdings unentbehrliche Kenntniß
uͤberall noch unbearbeitet, unbekannt, und ſelbſt einſichtsvollen Mahlern kaum beyzubringen iſt.
Wer ſich die Muͤhe nehmen mag, einen Hauſen der verſchiedenſten, unausgeſuchteſten
Menſchen ſtuͤckweiſe zu betrachten, der wird finden, daß z. E. jedes Ohr, jeder Mund, bey aller
Verſchiedenheit — dennoch ſeine kleinen Beugungen, Eckgen, Charaktere hat, die allen gemein
ſind — die ſtaͤrker oder ſchwaͤcher, ſchaͤrfer oder ſtumpfer durchaus bey allen Menſchen, die nicht
Mißgeburten, wenigſtens an dieſen Theilen ſind, angetroffen werden.
Was hilft nun alle Kenntniß der groͤßern Proportionen des menſchlichen Koͤrpers und
menſchlichen Geſichtes — (die abermals noch bey weitem nicht tief genug ſtudiert ſind, und gewiß
noch ſcharfer Reviſion beduͤrften; ein kuͤnftiger phyſiognomiſcher Mahler wird dieſen Ausſpruch
rechtfertigen, und unterdeſſen mag dieß meinethalben bloß abgeſprochen heißen —) Was hilft,
ſag’ ich, alle Kenntniß der groͤßern Proportionen, wenn die Kenntniß der feinern Zuͤge, die eben
ſo wahr, ſo allgemein, ſo beſtimmt, und nicht weniger bedeutend ſind, als die groͤßern — wenn
dieſe fehlt? und dieſe fehlt ſo ſehr, daß ich’s auf die Probe ankommen laſſen wollte, ob mancher der
geſchickteſten Mahler, der tauſend Portraͤte gemahlt hat, nur eine ertraͤglich beſtimmte allgemeine
Theorie von dem Munde z. E., nicht von dem innern Bau des Mundes, nein, nur von dem mah-
leriſchen
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |