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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 2. Leipzig u. a., 1776.

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XIV. Fragment. Bau und Gestaltung der Schädel.

Die zitzenförmigen Fortsätze der Schlafbeine, die hinter dem Gehörgange liegen, sind
in der zarten Kindheit noch nicht vorhanden, werden bey zunehmendem Alter größer und dicker;
sind bey Weibspersonen kleiner, zugerundet, und glatt, desgleichen bey Leuten, die eine sitzende
Lebensart führen; bey Bauern hingegen, bey Lastträgern und andern, die sich immer mit har-
ten und schweren Arbeiten abgeben, sehr groß, rauh und schief vor- und unterwärts gerichtet,
nach der Richtung der Muskeln, die daran befestigt sind.

Eben so werden von der verschiedenen Würksamkeit der Muskeln, und anderer nahe
gelegener Theile allerhand Zeichnungen und Eindrücke in den Knochen gemacht. Besonders zei-
gen sich im Gesichte des Schädels deutliche Spuren voriger Lebensart.

Widernatürliche Geschwulsten in der Nähe der Knochen verändern durch ihren anhal-
tenden Druck derselben Gestalt. Eine Pulsadergeschwulst in der Brust bey einem erwachse-
nen
Menschen hat sogar das Brustbein durchbohret, und um die große Oeffnung her Gruben
und Höhlen gebildet, die der Gestalt der Geschwulst entsprachen. Das Präparat davon soll
im Petersburgischen anatomischen Kabinete aufbehalten seyn. Vom Ausserordentlichen läßt sich
hier auf das, was alle Tage geschieht, und nothwendig geschehen muß, schließen. Gutta cavat
lapidem.

Die Beobachtung ist für die Physiognomik wichtig. Wir werden sie mehrmals zu be-
nutzen suchen.

Der Herr von Fischer ist der Meynung, daß man wenigstens einfachere, oder den sehr
starken Charakter aus bloßen Schädeln erkennen könne, -- näher bestimmt er die Anlage, die
Maße des Charakters aus der ganzen Form, Härte, Proportion -- die zufällige nähere Ausbil-
dung und Bestimmung desselben -- aus den verschiedenen Eindrücken, die die Gesichtsmuskeln
darinn zurück gelassen haben. -- Daher die große Verschiedenheit dieser Knochen, wie die Ver-
schiedenheit der Sprachen, der Mundarten. --

Das Resultat von diesem allem ist: das Knochensystem ist immer Fundament der Phy-
siognomik, man mag dasselbe bloß als bestimmend in Ansehung der weichern Theile, oder bloß
als bestimmt durch die weichern Theile, oder als bestimmend und bestimmt zugleich anse-

hen.
XIV. Fragment. Bau und Geſtaltung der Schaͤdel.

Die zitzenfoͤrmigen Fortſaͤtze der Schlafbeine, die hinter dem Gehoͤrgange liegen, ſind
in der zarten Kindheit noch nicht vorhanden, werden bey zunehmendem Alter groͤßer und dicker;
ſind bey Weibsperſonen kleiner, zugerundet, und glatt, desgleichen bey Leuten, die eine ſitzende
Lebensart fuͤhren; bey Bauern hingegen, bey Laſttraͤgern und andern, die ſich immer mit har-
ten und ſchweren Arbeiten abgeben, ſehr groß, rauh und ſchief vor- und unterwaͤrts gerichtet,
nach der Richtung der Muskeln, die daran befeſtigt ſind.

Eben ſo werden von der verſchiedenen Wuͤrkſamkeit der Muskeln, und anderer nahe
gelegener Theile allerhand Zeichnungen und Eindruͤcke in den Knochen gemacht. Beſonders zei-
gen ſich im Geſichte des Schaͤdels deutliche Spuren voriger Lebensart.

Widernatuͤrliche Geſchwulſten in der Naͤhe der Knochen veraͤndern durch ihren anhal-
tenden Druck derſelben Geſtalt. Eine Pulsadergeſchwulſt in der Bruſt bey einem erwachſe-
nen
Menſchen hat ſogar das Bruſtbein durchbohret, und um die große Oeffnung her Gruben
und Hoͤhlen gebildet, die der Geſtalt der Geſchwulſt entſprachen. Das Praͤparat davon ſoll
im Petersburgiſchen anatomiſchen Kabinete aufbehalten ſeyn. Vom Auſſerordentlichen laͤßt ſich
hier auf das, was alle Tage geſchieht, und nothwendig geſchehen muß, ſchließen. Gutta cavat
lapidem.

Die Beobachtung iſt fuͤr die Phyſiognomik wichtig. Wir werden ſie mehrmals zu be-
nutzen ſuchen.

Der Herr von Fiſcher iſt der Meynung, daß man wenigſtens einfachere, oder den ſehr
ſtarken Charakter aus bloßen Schaͤdeln erkennen koͤnne, — naͤher beſtimmt er die Anlage, die
Maße des Charakters aus der ganzen Form, Haͤrte, Proportion — die zufaͤllige naͤhere Ausbil-
dung und Beſtimmung deſſelben — aus den verſchiedenen Eindruͤcken, die die Geſichtsmuskeln
darinn zuruͤck gelaſſen haben. — Daher die große Verſchiedenheit dieſer Knochen, wie die Ver-
ſchiedenheit der Sprachen, der Mundarten. —

Das Reſultat von dieſem allem iſt: das Knochenſyſtem iſt immer Fundament der Phy-
ſiognomik, man mag daſſelbe bloß als beſtimmend in Anſehung der weichern Theile, oder bloß
als beſtimmt durch die weichern Theile, oder als beſtimmend und beſtimmt zugleich anſe-

hen.
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[162/0228] XIV. Fragment. Bau und Geſtaltung der Schaͤdel. Die zitzenfoͤrmigen Fortſaͤtze der Schlafbeine, die hinter dem Gehoͤrgange liegen, ſind in der zarten Kindheit noch nicht vorhanden, werden bey zunehmendem Alter groͤßer und dicker; ſind bey Weibsperſonen kleiner, zugerundet, und glatt, desgleichen bey Leuten, die eine ſitzende Lebensart fuͤhren; bey Bauern hingegen, bey Laſttraͤgern und andern, die ſich immer mit har- ten und ſchweren Arbeiten abgeben, ſehr groß, rauh und ſchief vor- und unterwaͤrts gerichtet, nach der Richtung der Muskeln, die daran befeſtigt ſind. Eben ſo werden von der verſchiedenen Wuͤrkſamkeit der Muskeln, und anderer nahe gelegener Theile allerhand Zeichnungen und Eindruͤcke in den Knochen gemacht. Beſonders zei- gen ſich im Geſichte des Schaͤdels deutliche Spuren voriger Lebensart. Widernatuͤrliche Geſchwulſten in der Naͤhe der Knochen veraͤndern durch ihren anhal- tenden Druck derſelben Geſtalt. Eine Pulsadergeſchwulſt in der Bruſt bey einem erwachſe- nen Menſchen hat ſogar das Bruſtbein durchbohret, und um die große Oeffnung her Gruben und Hoͤhlen gebildet, die der Geſtalt der Geſchwulſt entſprachen. Das Praͤparat davon ſoll im Petersburgiſchen anatomiſchen Kabinete aufbehalten ſeyn. Vom Auſſerordentlichen laͤßt ſich hier auf das, was alle Tage geſchieht, und nothwendig geſchehen muß, ſchließen. Gutta cavat lapidem. Die Beobachtung iſt fuͤr die Phyſiognomik wichtig. Wir werden ſie mehrmals zu be- nutzen ſuchen. Der Herr von Fiſcher iſt der Meynung, daß man wenigſtens einfachere, oder den ſehr ſtarken Charakter aus bloßen Schaͤdeln erkennen koͤnne, — naͤher beſtimmt er die Anlage, die Maße des Charakters aus der ganzen Form, Haͤrte, Proportion — die zufaͤllige naͤhere Ausbil- dung und Beſtimmung deſſelben — aus den verſchiedenen Eindruͤcken, die die Geſichtsmuskeln darinn zuruͤck gelaſſen haben. — Daher die große Verſchiedenheit dieſer Knochen, wie die Ver- ſchiedenheit der Sprachen, der Mundarten. — Das Reſultat von dieſem allem iſt: das Knochenſyſtem iſt immer Fundament der Phy- ſiognomik, man mag daſſelbe bloß als beſtimmend in Anſehung der weichern Theile, oder bloß als beſtimmt durch die weichern Theile, oder als beſtimmend und beſtimmt zugleich anſe- hen.

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 2. Leipzig u. a., 1776, S. 162. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente02_1776/228>, abgerufen am 21.11.2024.