Was ich von dem jüngern Bruder gesagt -- wie viel davon kann auch von diesem gesagt werden! Das vornehmste, das ich anmerken kann, ist dieß: Diese Figur und dieser Charakter sind mehr gepackt und weniger gedehnt, als die vorige. Dort alles länger und flächer; hier alles kürzer, breiter, gewölbter, gebogener; dort alles lockerer, hier beschnittener. So die Stirn; so die Nase; so die Brust; zusammengedrängter, lebendiger, weniger verbreitete, mehr zielende Kraft und Lebendigkeit! Sonst dieselbe Liebenswürdigkeit und Bonhomie! Nicht die auffallende Of- fenheit; mehr Verschlagenheit, aber im Grunde, oder vielmehr in der That, eben dieselbe Ehr- lichkeit. Derselbe unbezwingbare Abscheu gegen Unrecht und Bosheit; dieselbe Unversöhnlichkeit mit allem, was Ränk' und Tücke heist; dieselbe Unerbittlichkeit gegen Tyranney und Despotis- me; dasselbe reine, unbestechliche Gefühl für alles Edle, Gute, Große; dasselbe Bedürfniß der Freundschaft und Freyheit; dieselbe Empfindsamkeit und edle Ruhmbegierde; dieselbe Allgemein- heit des Herzens für alle gute, weise, einfältige, kraftvolle, berühmte oder unberühmte, gekannte oder mißkannte Menschen; -- und -- dieselbe leichtsinnige Unbedachtsamkeit. Nein! nicht ge- rade dieselbe. Das Gesicht ist beschnittener, angezogener, fester; hat mehr innere, sich leicht ent- wickelnde Geschicklichkeit zu Geschäfften und praktischen Berathschlagungen; mehr durchsetzenden Muth, der sich besonders in den stark vordringenden, stumpf abgerundeten Knochen der Augen zeigt. Nicht das aufquillende, reiche, reine, hohe Dichtergefühl; nicht die schnelle Leichtigkeit der produktifen Kraft des andern. Aber dennoch, wiewohl in tiefern Regionen, lebendig, richtig, in- nig. Nicht das luftige, in morgenröthlichem Himmel dahin schwebende, Gestalten bildende Licht- genie -- Mehr innere Kraft, vielleicht, weniger Ausdruck! mehr gewaltig und furchtbar -- weniger prächtig und rund; obgleich seinem Pinsel weder Färbung noch Zauber fehlt. -- Mehr Witz und rasende Laune; drolligter Satyr; Stirn, Nase, Blick -- alles so herab, so vorhän- gend; recht entscheidend für originellen, allbelebenden Witz, der nicht von aussenher einsammelt, sondern von innen heraus wirft. Ueberhaupt ist alles an diesem Charakter vordringender,
eckiger,
XXX.Fragment.
II. 2. 4. Der Bruder des vorigen.
Was ich von dem juͤngern Bruder geſagt — wie viel davon kann auch von dieſem geſagt werden! Das vornehmſte, das ich anmerken kann, iſt dieß: Dieſe Figur und dieſer Charakter ſind mehr gepackt und weniger gedehnt, als die vorige. Dort alles laͤnger und flaͤcher; hier alles kuͤrzer, breiter, gewoͤlbter, gebogener; dort alles lockerer, hier beſchnittener. So die Stirn; ſo die Naſe; ſo die Bruſt; zuſammengedraͤngter, lebendiger, weniger verbreitete, mehr zielende Kraft und Lebendigkeit! Sonſt dieſelbe Liebenswuͤrdigkeit und Bonhomie! Nicht die auffallende Of- fenheit; mehr Verſchlagenheit, aber im Grunde, oder vielmehr in der That, eben dieſelbe Ehr- lichkeit. Derſelbe unbezwingbare Abſcheu gegen Unrecht und Bosheit; dieſelbe Unverſoͤhnlichkeit mit allem, was Raͤnk’ und Tuͤcke heiſt; dieſelbe Unerbittlichkeit gegen Tyranney und Deſpotis- me; daſſelbe reine, unbeſtechliche Gefuͤhl fuͤr alles Edle, Gute, Große; daſſelbe Beduͤrfniß der Freundſchaft und Freyheit; dieſelbe Empfindſamkeit und edle Ruhmbegierde; dieſelbe Allgemein- heit des Herzens fuͤr alle gute, weiſe, einfaͤltige, kraftvolle, beruͤhmte oder unberuͤhmte, gekannte oder mißkannte Menſchen; — und — dieſelbe leichtſinnige Unbedachtſamkeit. Nein! nicht ge- rade dieſelbe. Das Geſicht iſt beſchnittener, angezogener, feſter; hat mehr innere, ſich leicht ent- wickelnde Geſchicklichkeit zu Geſchaͤfften und praktiſchen Berathſchlagungen; mehr durchſetzenden Muth, der ſich beſonders in den ſtark vordringenden, ſtumpf abgerundeten Knochen der Augen zeigt. Nicht das aufquillende, reiche, reine, hohe Dichtergefuͤhl; nicht die ſchnelle Leichtigkeit der produktifen Kraft des andern. Aber dennoch, wiewohl in tiefern Regionen, lebendig, richtig, in- nig. Nicht das luftige, in morgenroͤthlichem Himmel dahin ſchwebende, Geſtalten bildende Licht- genie — Mehr innere Kraft, vielleicht, weniger Ausdruck! mehr gewaltig und furchtbar — weniger praͤchtig und rund; obgleich ſeinem Pinſel weder Faͤrbung noch Zauber fehlt. — Mehr Witz und raſende Laune; drolligter Satyr; Stirn, Naſe, Blick — alles ſo herab, ſo vorhaͤn- gend; recht entſcheidend fuͤr originellen, allbelebenden Witz, der nicht von auſſenher einſammelt, ſondern von innen heraus wirft. Ueberhaupt iſt alles an dieſem Charakter vordringender,
eckiger,
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><pbfacs="#f0422"n="248"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#b"><hirendition="#aq">XXX.</hi><hirendition="#g">Fragment.</hi></hi></fw><lb/><divn="4"><head><hirendition="#b"><hirendition="#aq">II.</hi><lb/>
2. 4.<lb/><hirendition="#g">Der Bruder des vorigen.</hi></hi></head><lb/><p>Was ich von dem juͤngern Bruder geſagt — wie viel davon kann auch von dieſem geſagt<lb/>
werden! Das vornehmſte, das ich anmerken kann, iſt dieß: Dieſe Figur und dieſer Charakter ſind<lb/>
mehr gepackt und weniger gedehnt, als die vorige. Dort alles laͤnger und flaͤcher; hier alles<lb/>
kuͤrzer, breiter, gewoͤlbter, gebogener; dort alles lockerer, hier beſchnittener. So die Stirn; ſo<lb/>
die Naſe; ſo die Bruſt; zuſammengedraͤngter, lebendiger, weniger verbreitete, mehr zielende Kraft<lb/>
und Lebendigkeit! Sonſt dieſelbe Liebenswuͤrdigkeit und Bonhomie! Nicht die auffallende Of-<lb/>
fenheit; mehr Verſchlagenheit, aber im Grunde, oder vielmehr in der That, eben dieſelbe Ehr-<lb/>
lichkeit. Derſelbe unbezwingbare Abſcheu gegen Unrecht und Bosheit; dieſelbe Unverſoͤhnlichkeit<lb/>
mit allem, was Raͤnk’ und Tuͤcke heiſt; dieſelbe Unerbittlichkeit gegen Tyranney und Deſpotis-<lb/>
me; daſſelbe reine, unbeſtechliche Gefuͤhl fuͤr alles Edle, Gute, Große; daſſelbe Beduͤrfniß der<lb/>
Freundſchaft und Freyheit; dieſelbe Empfindſamkeit und edle Ruhmbegierde; dieſelbe Allgemein-<lb/>
heit des Herzens fuͤr alle gute, weiſe, einfaͤltige, kraftvolle, beruͤhmte oder unberuͤhmte, gekannte<lb/>
oder mißkannte Menſchen; — und — dieſelbe leichtſinnige Unbedachtſamkeit. Nein! nicht ge-<lb/>
rade dieſelbe. Das Geſicht iſt beſchnittener, angezogener, feſter; hat mehr innere, ſich leicht ent-<lb/>
wickelnde Geſchicklichkeit zu Geſchaͤfften und praktiſchen Berathſchlagungen; mehr durchſetzenden<lb/>
Muth, der ſich beſonders in den ſtark vordringenden, ſtumpf abgerundeten Knochen der Augen<lb/>
zeigt. Nicht das aufquillende, reiche, reine, hohe Dichtergefuͤhl; nicht die ſchnelle Leichtigkeit der<lb/>
produktifen Kraft des andern. Aber dennoch, wiewohl in tiefern Regionen, lebendig, richtig, in-<lb/>
nig. Nicht das luftige, in morgenroͤthlichem Himmel dahin ſchwebende, Geſtalten bildende Licht-<lb/>
genie — Mehr innere Kraft, vielleicht, weniger Ausdruck! mehr gewaltig und furchtbar —<lb/>
weniger praͤchtig und rund; obgleich ſeinem Pinſel weder Faͤrbung noch Zauber fehlt. — Mehr<lb/>
Witz und raſende Laune; drolligter Satyr; Stirn, Naſe, Blick — alles ſo herab, ſo vorhaͤn-<lb/>
gend; recht entſcheidend fuͤr originellen, allbelebenden Witz, der nicht von auſſenher einſammelt,<lb/>ſondern von innen heraus wirft. Ueberhaupt iſt alles an dieſem Charakter vordringender,<lb/><fwplace="bottom"type="catch">eckiger,</fw><lb/></p></div></div></div></div></body></text></TEI>
[248/0422]
XXX. Fragment.
II.
2. 4.
Der Bruder des vorigen.
Was ich von dem juͤngern Bruder geſagt — wie viel davon kann auch von dieſem geſagt
werden! Das vornehmſte, das ich anmerken kann, iſt dieß: Dieſe Figur und dieſer Charakter ſind
mehr gepackt und weniger gedehnt, als die vorige. Dort alles laͤnger und flaͤcher; hier alles
kuͤrzer, breiter, gewoͤlbter, gebogener; dort alles lockerer, hier beſchnittener. So die Stirn; ſo
die Naſe; ſo die Bruſt; zuſammengedraͤngter, lebendiger, weniger verbreitete, mehr zielende Kraft
und Lebendigkeit! Sonſt dieſelbe Liebenswuͤrdigkeit und Bonhomie! Nicht die auffallende Of-
fenheit; mehr Verſchlagenheit, aber im Grunde, oder vielmehr in der That, eben dieſelbe Ehr-
lichkeit. Derſelbe unbezwingbare Abſcheu gegen Unrecht und Bosheit; dieſelbe Unverſoͤhnlichkeit
mit allem, was Raͤnk’ und Tuͤcke heiſt; dieſelbe Unerbittlichkeit gegen Tyranney und Deſpotis-
me; daſſelbe reine, unbeſtechliche Gefuͤhl fuͤr alles Edle, Gute, Große; daſſelbe Beduͤrfniß der
Freundſchaft und Freyheit; dieſelbe Empfindſamkeit und edle Ruhmbegierde; dieſelbe Allgemein-
heit des Herzens fuͤr alle gute, weiſe, einfaͤltige, kraftvolle, beruͤhmte oder unberuͤhmte, gekannte
oder mißkannte Menſchen; — und — dieſelbe leichtſinnige Unbedachtſamkeit. Nein! nicht ge-
rade dieſelbe. Das Geſicht iſt beſchnittener, angezogener, feſter; hat mehr innere, ſich leicht ent-
wickelnde Geſchicklichkeit zu Geſchaͤfften und praktiſchen Berathſchlagungen; mehr durchſetzenden
Muth, der ſich beſonders in den ſtark vordringenden, ſtumpf abgerundeten Knochen der Augen
zeigt. Nicht das aufquillende, reiche, reine, hohe Dichtergefuͤhl; nicht die ſchnelle Leichtigkeit der
produktifen Kraft des andern. Aber dennoch, wiewohl in tiefern Regionen, lebendig, richtig, in-
nig. Nicht das luftige, in morgenroͤthlichem Himmel dahin ſchwebende, Geſtalten bildende Licht-
genie — Mehr innere Kraft, vielleicht, weniger Ausdruck! mehr gewaltig und furchtbar —
weniger praͤchtig und rund; obgleich ſeinem Pinſel weder Faͤrbung noch Zauber fehlt. — Mehr
Witz und raſende Laune; drolligter Satyr; Stirn, Naſe, Blick — alles ſo herab, ſo vorhaͤn-
gend; recht entſcheidend fuͤr originellen, allbelebenden Witz, der nicht von auſſenher einſammelt,
ſondern von innen heraus wirft. Ueberhaupt iſt alles an dieſem Charakter vordringender,
eckiger,
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 2. Leipzig u. a., 1776, S. 248. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente02_1776/422>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.