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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 2. Leipzig u. a., 1776.

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Sanfte, treue, edle, zärtliche Charakter.
eckiger, angreifender, stürmender! -- Nirgends Plattheit, nirgends Erschlaffung, ausgenom-
men im zusinkenden Auge, wo Wollust, wie in Stirn und Nase -- hervorspringt. Sonst selbst
in dieser Stirne, dieser Gedrängtheit von allem -- diesem Blicke sogar -- untrügbarer Aus-
druck von ungelernter Größe; Stärke; Drang der Menschheit; Ständigkeit; Einfachheit; Be-
stimmtheit! --

Noch einige besondere Anmerkungen über die Porträte und Sil-
houetten der beyden Tafeln.

Die unschattirte Tafel ist weniger wahr als die schattirte ...

1 ist trockener, mißbehaglicher, als das schattirte Profil. Doch ist die Augenbraune wahrer,
und der mehr zurückstehende Augenstern denkender, vernünftiger im bloßen Umrisse, als im schattir-
ten. Der Mund im letztern hat mehr gefühlvolle dichterische Bonhomie, als im bloßen Umrisse.
Und wo liegt dieß? Jn dem Ueberhängenden der Oberlippe -- und dem Zurückstehen der Unter-
lippe; -- in dem wahreren Verhältnisse der Höhe beyder Lippen. -- Jm unschattirten ist die Unter-
lippe größer; im schattirten kleiner als die Oberlippe; und dann fehlt hinten am Munde das Leben
und Güte verkündende Eckgen oder Kraftpunkt, oder scharfe Druck, oder wie mans nennen mag.
Besonders ist auch noch der Unterschied des Kinns zu bemerken. Jm unschattirten ist der Kinn-
ball etwas länglichter, weniger rund, und der Uebergang zum Unterkinne schärfer und gröber.

Und wie verhält sich nun der Schattenriß 3. auf der ersten Tafel, von demselben Gesichte
zu 1. und 1. auf beyden, und zum Schattenriß 3. auf der andern Tafel?

Der Umriß 3. auf der ersten unschattirten Tafel hat viel mehr Sanftheit und Bonhomie,
als der Umriß 1. auf derselben Tafel; und nicht ganz die poetische Kraft des Gränzumrisses am
schattirten Profile auf der zweyten Tafel.

Am
Phys. Fragm. II Versuch. J i

Sanfte, treue, edle, zaͤrtliche Charakter.
eckiger, angreifender, ſtuͤrmender! — Nirgends Plattheit, nirgends Erſchlaffung, ausgenom-
men im zuſinkenden Auge, wo Wolluſt, wie in Stirn und Naſe — hervorſpringt. Sonſt ſelbſt
in dieſer Stirne, dieſer Gedraͤngtheit von allem — dieſem Blicke ſogar — untruͤgbarer Aus-
druck von ungelernter Groͤße; Staͤrke; Drang der Menſchheit; Staͤndigkeit; Einfachheit; Be-
ſtimmtheit! —

Noch einige beſondere Anmerkungen uͤber die Portraͤte und Sil-
houetten der beyden Tafeln.

Die unſchattirte Tafel iſt weniger wahr als die ſchattirte ...

1 iſt trockener, mißbehaglicher, als das ſchattirte Profil. Doch iſt die Augenbraune wahrer,
und der mehr zuruͤckſtehende Augenſtern denkender, vernuͤnftiger im bloßen Umriſſe, als im ſchattir-
ten. Der Mund im letztern hat mehr gefuͤhlvolle dichteriſche Bonhomie, als im bloßen Umriſſe.
Und wo liegt dieß? Jn dem Ueberhaͤngenden der Oberlippe — und dem Zuruͤckſtehen der Unter-
lippe; — in dem wahreren Verhaͤltniſſe der Hoͤhe beyder Lippen. — Jm unſchattirten iſt die Unter-
lippe groͤßer; im ſchattirten kleiner als die Oberlippe; und dann fehlt hinten am Munde das Leben
und Guͤte verkuͤndende Eckgen oder Kraftpunkt, oder ſcharfe Druck, oder wie mans nennen mag.
Beſonders iſt auch noch der Unterſchied des Kinns zu bemerken. Jm unſchattirten iſt der Kinn-
ball etwas laͤnglichter, weniger rund, und der Uebergang zum Unterkinne ſchaͤrfer und groͤber.

Und wie verhaͤlt ſich nun der Schattenriß 3. auf der erſten Tafel, von demſelben Geſichte
zu 1. und 1. auf beyden, und zum Schattenriß 3. auf der andern Tafel?

Der Umriß 3. auf der erſten unſchattirten Tafel hat viel mehr Sanftheit und Bonhomie,
als der Umriß 1. auf derſelben Tafel; und nicht ganz die poetiſche Kraft des Graͤnzumriſſes am
ſchattirten Profile auf der zweyten Tafel.

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[249/0423] Sanfte, treue, edle, zaͤrtliche Charakter. eckiger, angreifender, ſtuͤrmender! — Nirgends Plattheit, nirgends Erſchlaffung, ausgenom- men im zuſinkenden Auge, wo Wolluſt, wie in Stirn und Naſe — hervorſpringt. Sonſt ſelbſt in dieſer Stirne, dieſer Gedraͤngtheit von allem — dieſem Blicke ſogar — untruͤgbarer Aus- druck von ungelernter Groͤße; Staͤrke; Drang der Menſchheit; Staͤndigkeit; Einfachheit; Be- ſtimmtheit! — Noch einige beſondere Anmerkungen uͤber die Portraͤte und Sil- houetten der beyden Tafeln. Die unſchattirte Tafel iſt weniger wahr als die ſchattirte ... 1 iſt trockener, mißbehaglicher, als das ſchattirte Profil. Doch iſt die Augenbraune wahrer, und der mehr zuruͤckſtehende Augenſtern denkender, vernuͤnftiger im bloßen Umriſſe, als im ſchattir- ten. Der Mund im letztern hat mehr gefuͤhlvolle dichteriſche Bonhomie, als im bloßen Umriſſe. Und wo liegt dieß? Jn dem Ueberhaͤngenden der Oberlippe — und dem Zuruͤckſtehen der Unter- lippe; — in dem wahreren Verhaͤltniſſe der Hoͤhe beyder Lippen. — Jm unſchattirten iſt die Unter- lippe groͤßer; im ſchattirten kleiner als die Oberlippe; und dann fehlt hinten am Munde das Leben und Guͤte verkuͤndende Eckgen oder Kraftpunkt, oder ſcharfe Druck, oder wie mans nennen mag. Beſonders iſt auch noch der Unterſchied des Kinns zu bemerken. Jm unſchattirten iſt der Kinn- ball etwas laͤnglichter, weniger rund, und der Uebergang zum Unterkinne ſchaͤrfer und groͤber. Und wie verhaͤlt ſich nun der Schattenriß 3. auf der erſten Tafel, von demſelben Geſichte zu 1. und 1. auf beyden, und zum Schattenriß 3. auf der andern Tafel? Der Umriß 3. auf der erſten unſchattirten Tafel hat viel mehr Sanftheit und Bonhomie, als der Umriß 1. auf derſelben Tafel; und nicht ganz die poetiſche Kraft des Graͤnzumriſſes am ſchattirten Profile auf der zweyten Tafel. Am Phyſ. Fragm. II Verſuch. J i

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 2. Leipzig u. a., 1776, S. 249. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente02_1776/423>, abgerufen am 22.11.2024.