Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 2. Leipzig u. a., 1776.Ueber Verstellung, Falschheit und Aufrichtigkeit. "Also aber kann sie's -- und -- was sagt denn die Physiognomik?" -- Das sagt sie: -- "Jch sehe zween Menschen vor mir, davon der eine sich keine Anstrengung geben darf, O Leser! glaub' es mir; -- ich sah, hörte, fühlte die Unschuld und die Schuld; -- die "Vor ihrem kleinsten Lachen hütet euch, "Jhr Freunde, schon von weitem! "Und könnt ihr fliehen, fliehet gleich! "Es schadet guten Leuten. -- "Es blendet oft der hellsten Augen Licht; "Macht den gesunden Schmerzen; "Jn alles, alles, was sie spricht, "Fließt Gift aus ihrem Herzen. Michaelis. Es H 2
Ueber Verſtellung, Falſchheit und Aufrichtigkeit. „Alſo aber kann ſie’s — und — was ſagt denn die Phyſiognomik?“ — Das ſagt ſie: — „Jch ſehe zween Menſchen vor mir, davon der eine ſich keine Anſtrengung geben darf, O Leſer! glaub’ es mir; — ich ſah, hoͤrte, fuͤhlte die Unſchuld und die Schuld; — die „Vor ihrem kleinſten Lachen huͤtet euch, „Jhr Freunde, ſchon von weitem! „Und koͤnnt ihr fliehen, fliehet gleich! „Es ſchadet guten Leuten. — „Es blendet oft der hellſten Augen Licht; „Macht den geſunden Schmerzen; „Jn alles, alles, was ſie ſpricht, „Fließt Gift aus ihrem Herzen. Michaelis. Es H 2
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Ueber Verſtellung, Falſchheit und Aufrichtigkeit.
„Alſo aber kann ſie’s — und — was ſagt denn die Phyſiognomik?“ — Das ſagt ſie: —
„Jch ſehe zween Menſchen vor mir, davon der eine ſich keine Anſtrengung geben darf,
„anders zu ſcheinen, als er iſt, der andere ſich die groͤßte Anſtrengung geben, und dieſe Anſtrengung
„aufs ſorgfaͤltigſte verbergen muß; der Schuldige hat vielleicht noch mehr Dreiſtigkeit, als die
„Unſchuld — aber ſicherlich hat die Stimme der Unſchuld mehr Energie, Beredungskraft, Glaub-
„wuͤrdigkeit! ſicherlich hat der Blick der Unſchuld mehr Licht, als der boshaften Luͤge! Jch
„ſah ihn, dieſen Blick, mit Wehmuth und Zorn uͤber Schuld und Unſchuld, den unbeſchreiblichen
„Blick — der ſo treffend ſagte: — Und du darfſt’s laͤugnen? — — Jch ſah den gleichſam
„mit einem Nebel verſchleyerten ſich aufraffenden Blick; hoͤrte die zwar rohdreiſte, anmaßungs-
„reiche, aber dennoch, wie der Blick, matte, dumpfere — weniger nackte Stimme, die antwor-
„tete: Ja, das darf ich! — Jn der Stellung, in der Gebehrdung der Haͤnde beſonders —
„im Schritte, da ſie hin und her gefuͤhret wurden; im Momente, da ich das treffendſte uͤber die
„Feyerlichkeit des Eides ſagte, welcher von ihnen gefordert werden wuͤrde, in dieſem Momente —
„das Belecken der Lippen, der geſunkne Blick, die Mattheit der Stellung auf der Einen Sei-
„te — der offne, erſtaunte, feſte, eindringende, warme, ruhevolle und ſtillrufende Blick auf
„der andern — Herr Jeſus! und — du willſt ſchwoͤren?“ —
O Leſer! glaub’ es mir; — ich ſah, hoͤrte, fuͤhlte die Unſchuld und die Schuld; — die
Bosheit mit dem unterdruͤckten verfluchten — Jch weiß nicht was —
„Vor ihrem kleinſten Lachen huͤtet euch,
„Jhr Freunde, ſchon von weitem!
„Und koͤnnt ihr fliehen, fliehet gleich!
„Es ſchadet guten Leuten. —
„Es blendet oft der hellſten Augen Licht;
„Macht den geſunden Schmerzen;
„Jn alles, alles, was ſie ſpricht,
„Fließt Gift aus ihrem Herzen.
Michaelis.
Es
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Zitationshilfe: | Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 2. Leipzig u. a., 1776, S. 59. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente02_1776/81>, abgerufen am 16.07.2024. |