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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 2. Leipzig u. a., 1776.

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VII. Fragment.

Es ist wahr, was der Verfasser der Bittschrift für die Wittwe Gamm sagt: *)

"Cette Chaleur, si l'on pouvoit ainsi parler, est le pouls de l'innocence; l'in-
"nocence a des accents inimitables, & malheur au juge, qui ne scait point les enten-
"dre! Quoy des Sourcis,
sagt ein anderer Franzos, ich glaube Montagne, Quoy des Sour-
"cis? quoy des Epaules? Il n'est mouvement, qui ne parle, & un Langage intelligible,
"sans discipline, & un Langage public.
"

Jch kann diesen wichtigen Punkt noch nicht verlassen, ohne noch ein Paar Anmerkun-
gen beyzufügen.

Eine allgemeine Anmerkung:

Ehrlichkeit, Aufrichtigkeit ist das simpelste -- und dennoch unerklärbarste Ding
von der Welt! -- Ein Wort vom allerweitesten und allereingeschränktesten Sinn --

Wer ganz ehrlich ist, möcht' ich einen Gott, und wer ganz unehrlich ist, einen
Teufel nennen. Aber der Mensch ist weder ein Gott noch ein Teufel, sondern ein Mensch.
Es ist kein Mensch ganz ehrlich, und keiner ganz unehrlich.

Sprechen wir also von Verstellung und Aufrichtigkeit, so müssen wir die allerfein-
sten Begriffe hievon beynahe ganz auf die Seite setzen. Wir müssen den aufrichtig nennen,
der sich keiner falschen, eigennützigen Absicht, die er zu verbergen suchen will, bewußt ist; den
falsch, der sich wissentlich bestrebt, besser zu scheinen, als er ist. Dieß voraus geschickt, hab'
ich über Verstellung und Aufrichtigkeit in Absicht auf die Physiognomie noch folgendes zu
sagen:

Jst ein Mensch durch Verstellung anderer betrogen worden, so bin ichs. Hätt' ein
Mensch Ursache, die Verstellungskunst der Menschen zum Einwurf gegen alle Zuverlässigkeit
der Physiognomik zu machen, so hätt' ichs. Und dennoch behaupte ich diese Zuverlässigkeit um
so viel dreister, jemehr ich mich durch angenommene Mienen der Redlichkeit habe täuschen las-
sen. Denn einmal ist's doch ganz natürlich, daß auch der schwächste Verstand zuletzt durch
Schaden aufmerksam, durch Aufmerksamkeit klug werden muß. Jch ward in eine Art von

Noth-
*) Memoire pour la veuve Gamme, a Lyon 1773. p. 40.
VII. Fragment.

Es iſt wahr, was der Verfaſſer der Bittſchrift fuͤr die Wittwe Gamm ſagt: *)

Cette Chaleur, ſi l’on pouvoit ainſi parler, eſt le pouls de l’innocence; l’in-
„nocence a des accents inimitables, & malheur au juge, qui ne ſcait point les enten-
„dre! Quoy des Sourcis,
ſagt ein anderer Franzos, ich glaube Montagne, Quoy des Sour-
„cis? quoy des Epaules? Il n’eſt mouvement, qui ne parle, & un Langage intelligible,
„ſans diſcipline, & un Langage public.

Jch kann dieſen wichtigen Punkt noch nicht verlaſſen, ohne noch ein Paar Anmerkun-
gen beyzufuͤgen.

Eine allgemeine Anmerkung:

Ehrlichkeit, Aufrichtigkeit iſt das ſimpelſte — und dennoch unerklaͤrbarſte Ding
von der Welt! — Ein Wort vom allerweiteſten und allereingeſchraͤnkteſten Sinn —

Wer ganz ehrlich iſt, moͤcht’ ich einen Gott, und wer ganz unehrlich iſt, einen
Teufel nennen. Aber der Menſch iſt weder ein Gott noch ein Teufel, ſondern ein Menſch.
Es iſt kein Menſch ganz ehrlich, und keiner ganz unehrlich.

Sprechen wir alſo von Verſtellung und Aufrichtigkeit, ſo muͤſſen wir die allerfein-
ſten Begriffe hievon beynahe ganz auf die Seite ſetzen. Wir muͤſſen den aufrichtig nennen,
der ſich keiner falſchen, eigennuͤtzigen Abſicht, die er zu verbergen ſuchen will, bewußt iſt; den
falſch, der ſich wiſſentlich beſtrebt, beſſer zu ſcheinen, als er iſt. Dieß voraus geſchickt, hab’
ich uͤber Verſtellung und Aufrichtigkeit in Abſicht auf die Phyſiognomie noch folgendes zu
ſagen:

Jſt ein Menſch durch Verſtellung anderer betrogen worden, ſo bin ichs. Haͤtt’ ein
Menſch Urſache, die Verſtellungskunſt der Menſchen zum Einwurf gegen alle Zuverlaͤſſigkeit
der Phyſiognomik zu machen, ſo haͤtt’ ichs. Und dennoch behaupte ich dieſe Zuverlaͤſſigkeit um
ſo viel dreiſter, jemehr ich mich durch angenommene Mienen der Redlichkeit habe taͤuſchen laſ-
ſen. Denn einmal iſt’s doch ganz natuͤrlich, daß auch der ſchwaͤchſte Verſtand zuletzt durch
Schaden aufmerkſam, durch Aufmerkſamkeit klug werden muß. Jch ward in eine Art von

Noth-
*) Memoire pour la veuve Gamme, à Lyon 1773. p. 40.
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[60/0082] VII. Fragment. Es iſt wahr, was der Verfaſſer der Bittſchrift fuͤr die Wittwe Gamm ſagt: *) „Cette Chaleur, ſi l’on pouvoit ainſi parler, eſt le pouls de l’innocence; l’in- „nocence a des accents inimitables, & malheur au juge, qui ne ſcait point les enten- „dre! Quoy des Sourcis, ſagt ein anderer Franzos, ich glaube Montagne, Quoy des Sour- „cis? quoy des Epaules? Il n’eſt mouvement, qui ne parle, & un Langage intelligible, „ſans diſcipline, & un Langage public.“ Jch kann dieſen wichtigen Punkt noch nicht verlaſſen, ohne noch ein Paar Anmerkun- gen beyzufuͤgen. Eine allgemeine Anmerkung: Ehrlichkeit, Aufrichtigkeit iſt das ſimpelſte — und dennoch unerklaͤrbarſte Ding von der Welt! — Ein Wort vom allerweiteſten und allereingeſchraͤnkteſten Sinn — Wer ganz ehrlich iſt, moͤcht’ ich einen Gott, und wer ganz unehrlich iſt, einen Teufel nennen. Aber der Menſch iſt weder ein Gott noch ein Teufel, ſondern ein Menſch. Es iſt kein Menſch ganz ehrlich, und keiner ganz unehrlich. Sprechen wir alſo von Verſtellung und Aufrichtigkeit, ſo muͤſſen wir die allerfein- ſten Begriffe hievon beynahe ganz auf die Seite ſetzen. Wir muͤſſen den aufrichtig nennen, der ſich keiner falſchen, eigennuͤtzigen Abſicht, die er zu verbergen ſuchen will, bewußt iſt; den falſch, der ſich wiſſentlich beſtrebt, beſſer zu ſcheinen, als er iſt. Dieß voraus geſchickt, hab’ ich uͤber Verſtellung und Aufrichtigkeit in Abſicht auf die Phyſiognomie noch folgendes zu ſagen: Jſt ein Menſch durch Verſtellung anderer betrogen worden, ſo bin ichs. Haͤtt’ ein Menſch Urſache, die Verſtellungskunſt der Menſchen zum Einwurf gegen alle Zuverlaͤſſigkeit der Phyſiognomik zu machen, ſo haͤtt’ ichs. Und dennoch behaupte ich dieſe Zuverlaͤſſigkeit um ſo viel dreiſter, jemehr ich mich durch angenommene Mienen der Redlichkeit habe taͤuſchen laſ- ſen. Denn einmal iſt’s doch ganz natuͤrlich, daß auch der ſchwaͤchſte Verſtand zuletzt durch Schaden aufmerkſam, durch Aufmerkſamkeit klug werden muß. Jch ward in eine Art von Noth- *) Memoire pour la veuve Gamme, à Lyon 1773. p. 40.

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 2. Leipzig u. a., 1776, S. 60. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente02_1776/82>, abgerufen am 24.11.2024.