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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 2. Leipzig u. a., 1776.

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Ueber Verstellung, Falschheit und Aufrichtigkeit.
Nothwendigkeit gesetzt, alle meine Kräfte aufzubieten, bestimmtere Zeichen der Redlichkeit und
Falschheit aufzusuchen -- oder mit andern Worten, das dunkle Gefühl, das beym ersten An-
blick einer Person in mir rege ward, und dem ich aus gutem Herzen und gesunder Vernunft
so wenig Glauben beymessen wollte, dieß wahre, ungelernte, Grundgefühl fester zu halten,
und, wo möglich, einigermaßen zu analisiren. Jmmer zu meinem Schaden hab' ich diesen er-
sten Eindruck wieder aus meinem Herzen zu verwischen gesucht.

Der Betrüger ist nie weniger vermögend, sich zu verstellen, als im ersten Augenblicke,
da wir ihn sehen, wenn er sich noch gleichsam ganz allein gelassen, eh' er in eine gewisse Akti-
vität und Wärme gesetzt ist. -- Nichts ist schwerer, behaupte ich, und nichts dennoch leichter,
als Heucheley zu entdecken. Nichts schwerer, so lange der Heuchler denkt, daß er beobach-
tet werde. Nichts leichter, sobald er vergißt, daß er beobachtet wird. Die Ehrlichkeit hin-
gegen ist viel leichter zu bemerken und zu empfinden, weil sie immer in einem natürlichen Zu-
stande, und ausser allem Bestreben ist, sich anzustrengen, sich aufzustutzen.

Doch muß das ja wohl bemerkt werden, daß Furchtsamkeit und Schüchternheit dem
redlichsten Gesichte oft den Anstrich der Unaufrichtigkeit geben können. Bloße Schüchternheit
kann's oft seyn, es muß nicht allemal Falschheit seyn, wenn dich der, so dir etwas erzählt, dir
etwas vertraut, nicht ansehen darf. Ueberhaupt macht dieß Niederschauen dessen, der mit uns
redet, zwar immer einen fatalen Eindruck. Wir können uns dabey des geheimen Argwohns
der Unaufrichtigkeit kaum erwehren. Es ist immer Schwachheit, Blödigkeit, Unvollkommen-
heit; -- Blödigkeit, die sehr leicht in Falschheit übergehen kann. Denn wer ist mehr der
Falschheit ausgesetzt, als der Furchtsame? wie leicht bequemt sich der nach jedem, mit dem er
umgeht? wie stark, wie nah' ist immer die Versuchung zum ais, ajo, und negas, nego? Pe-
trus
Falschheit und Untreue, was war sie anders, als Furchtsamkeit? Die wenigsten Menschen
sind groß genug, das ist, haben Kraft und Selbstgefühl genug, Entwürfe zu machen und ins
Werk zu setzen, um andere zu betrügen, und sie unter dem Schein der Treue und Freundschaft ins
Garn zu locken. -- Aber unzählige Menschen, nicht harte, rohe Seelen; edle, treffliche, ge-
fühlvolle, zärtliche, fein organisirte Menschen -- und gerade diese am meisten, schweben be-
ständig in der Gefahr, unredlich zu seyn; sie befinden sich immer an der Schwelle, oder viel-

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Ueber Verſtellung, Falſchheit und Aufrichtigkeit.
Nothwendigkeit geſetzt, alle meine Kraͤfte aufzubieten, beſtimmtere Zeichen der Redlichkeit und
Falſchheit aufzuſuchen — oder mit andern Worten, das dunkle Gefuͤhl, das beym erſten An-
blick einer Perſon in mir rege ward, und dem ich aus gutem Herzen und geſunder Vernunft
ſo wenig Glauben beymeſſen wollte, dieß wahre, ungelernte, Grundgefuͤhl feſter zu halten,
und, wo moͤglich, einigermaßen zu analiſiren. Jmmer zu meinem Schaden hab’ ich dieſen er-
ſten Eindruck wieder aus meinem Herzen zu verwiſchen geſucht.

Der Betruͤger iſt nie weniger vermoͤgend, ſich zu verſtellen, als im erſten Augenblicke,
da wir ihn ſehen, wenn er ſich noch gleichſam ganz allein gelaſſen, eh’ er in eine gewiſſe Akti-
vitaͤt und Waͤrme geſetzt iſt. — Nichts iſt ſchwerer, behaupte ich, und nichts dennoch leichter,
als Heucheley zu entdecken. Nichts ſchwerer, ſo lange der Heuchler denkt, daß er beobach-
tet werde. Nichts leichter, ſobald er vergißt, daß er beobachtet wird. Die Ehrlichkeit hin-
gegen iſt viel leichter zu bemerken und zu empfinden, weil ſie immer in einem natuͤrlichen Zu-
ſtande, und auſſer allem Beſtreben iſt, ſich anzuſtrengen, ſich aufzuſtutzen.

Doch muß das ja wohl bemerkt werden, daß Furchtſamkeit und Schuͤchternheit dem
redlichſten Geſichte oft den Anſtrich der Unaufrichtigkeit geben koͤnnen. Bloße Schuͤchternheit
kann’s oft ſeyn, es muß nicht allemal Falſchheit ſeyn, wenn dich der, ſo dir etwas erzaͤhlt, dir
etwas vertraut, nicht anſehen darf. Ueberhaupt macht dieß Niederſchauen deſſen, der mit uns
redet, zwar immer einen fatalen Eindruck. Wir koͤnnen uns dabey des geheimen Argwohns
der Unaufrichtigkeit kaum erwehren. Es iſt immer Schwachheit, Bloͤdigkeit, Unvollkommen-
heit; — Bloͤdigkeit, die ſehr leicht in Falſchheit uͤbergehen kann. Denn wer iſt mehr der
Falſchheit ausgeſetzt, als der Furchtſame? wie leicht bequemt ſich der nach jedem, mit dem er
umgeht? wie ſtark, wie nah’ iſt immer die Verſuchung zum ais, ajo, und negas, nego? Pe-
trus
Falſchheit und Untreue, was war ſie anders, als Furchtſamkeit? Die wenigſten Menſchen
ſind groß genug, das iſt, haben Kraft und Selbſtgefuͤhl genug, Entwuͤrfe zu machen und ins
Werk zu ſetzen, um andere zu betruͤgen, und ſie unter dem Schein der Treue und Freundſchaft ins
Garn zu locken. — Aber unzaͤhlige Menſchen, nicht harte, rohe Seelen; edle, treffliche, ge-
fuͤhlvolle, zaͤrtliche, fein organiſirte Menſchen — und gerade dieſe am meiſten, ſchweben be-
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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 2. Leipzig u. a., 1776, S. 61. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente02_1776/83>, abgerufen am 24.11.2024.