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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 2. Leipzig u. a., 1776.

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nach einem alten Marmor von Rubens.
"deren man sich bewußt ist) klebt an der Gewalt, wie die Würkung an der Ursache" -- (sagt der
Erzantiphysiognomist Helvetius, über den noch ein eignes Fragment geliefert werden sollte.)
Corneille hat schon gesagt:

Qui peut tout ce qu'il veut, veut plus que ce qu'il doit.

Wer thun kann, was er will, will oft mehr, als er soll.

Also sieht man, in welchem Sinne man sagen kann: "Ein Mensch hat schlimme An-
"lagen"
-- Das kann eben so viel gesagt seyn, als: "Er hat die besten Anlagen."

Sokrates hatte, nach dem Bilde zu urtheilen, das wir vor uns haben, sicherlich die
größten Anlagen, ein großer Mann zu werden. Zopyrus irrte, und Sokrates irrte, wenn
jener diesen für dumm ansah; dieser seine Anlage schwach glaubte. Seyn kann's, daß Träg-
heit und Fette des Fleisches Nebel um den hellen Verstand herum dünstete, den die erhabene
Stirn dem Zopyrus hätte verkündigen sollen! kann seyn, daß Sokrates den Geist nicht fühlte,
der in ihm war; daß Zufälligkeiten, die er, weil sie ihn von Jugend auf umgaben, für Anlage,
für Natur hielt, die Helle und Kraft seines Geistes dämpften, daß er den Ausdruck dieses Stirn-
gewölbes nicht kannte! Doch war's dieser Geist in ihm; der Einwohner dieser Stirn war's, der
die Nebel der Lehre von der Erziehung, der physischen und moralischen, zertheilen wollt' und konnte.

Das hohe geräumige Gewölbe dieser Stirn; die Schärfe der Augenknochen; die An-
strengung der Muskeln zwischen den Augenbraunen; der breite Rücken der Nase; das tiefe Auge;
dieß Aufsteigen des Augsterns unter dem Augendeckel -- wie ist dieß alles sprechend, zusammen-
stimmend für große natürliche Anlagen des Verstandes -- und für würklich entwickelte Kräfte --
Und was ist das, was wir vielleicht in der zwanzigsten Copie vor uns haben, gegen das Original!

"Aber dieß Gesichte hat doch auch gar nichts von jener edeln Einfalt, jener kalten, anmas-
"sungslosen, planlosen, sich jedermann empfehlenden Offenheit? Es ist doch so offenbar, daß aus
"den Augen etwas falsches, und zugleich viehisch wollüstiges herausblickt -- und im Munde?" --
Bedeckt einmal mit der Hand die obere Hälfte des Gesichtes -- setzet die Schiefheit, die durch den
offenbar zu breiten Schatten auf der rechten Seite des Mundes verursacht wird, auf Rechnung
des Zeichners oder Stechers -- Jhr werdet schon geneigter seyn, Euch mit diesem Munde zu
versöhnen. Jhr werdet wenigstens sicherlich etwas mehr als Gemeines darinn finden.

Jn
J 2

nach einem alten Marmor von Rubens.
„deren man ſich bewußt iſt) klebt an der Gewalt, wie die Wuͤrkung an der Urſache“ — (ſagt der
Erzantiphyſiognomiſt Helvetius, uͤber den noch ein eignes Fragment geliefert werden ſollte.)
Corneille hat ſchon geſagt:

Qui peut tout ce qu’il veut, veut plus que ce qu’il doit.

Wer thun kann, was er will, will oft mehr, als er ſoll.

Alſo ſieht man, in welchem Sinne man ſagen kann: „Ein Menſch hat ſchlimme An-
„lagen“
— Das kann eben ſo viel geſagt ſeyn, als: „Er hat die beſten Anlagen.“

Sokrates hatte, nach dem Bilde zu urtheilen, das wir vor uns haben, ſicherlich die
groͤßten Anlagen, ein großer Mann zu werden. Zopyrus irrte, und Sokrates irrte, wenn
jener dieſen fuͤr dumm anſah; dieſer ſeine Anlage ſchwach glaubte. Seyn kann’s, daß Traͤg-
heit und Fette des Fleiſches Nebel um den hellen Verſtand herum duͤnſtete, den die erhabene
Stirn dem Zopyrus haͤtte verkuͤndigen ſollen! kann ſeyn, daß Sokrates den Geiſt nicht fuͤhlte,
der in ihm war; daß Zufaͤlligkeiten, die er, weil ſie ihn von Jugend auf umgaben, fuͤr Anlage,
fuͤr Natur hielt, die Helle und Kraft ſeines Geiſtes daͤmpften, daß er den Ausdruck dieſes Stirn-
gewoͤlbes nicht kannte! Doch war’s dieſer Geiſt in ihm; der Einwohner dieſer Stirn war’s, der
die Nebel der Lehre von der Erziehung, der phyſiſchen und moraliſchen, zertheilen wollt’ und konnte.

Das hohe geraͤumige Gewoͤlbe dieſer Stirn; die Schaͤrfe der Augenknochen; die An-
ſtrengung der Muskeln zwiſchen den Augenbraunen; der breite Ruͤcken der Naſe; das tiefe Auge;
dieß Aufſteigen des Augſterns unter dem Augendeckel — wie iſt dieß alles ſprechend, zuſammen-
ſtimmend fuͤr große natuͤrliche Anlagen des Verſtandes — und fuͤr wuͤrklich entwickelte Kraͤfte —
Und was iſt das, was wir vielleicht in der zwanzigſten Copie vor uns haben, gegen das Original!

„Aber dieß Geſichte hat doch auch gar nichts von jener edeln Einfalt, jener kalten, anmaſ-
„ſungsloſen, planloſen, ſich jedermann empfehlenden Offenheit? Es iſt doch ſo offenbar, daß aus
„den Augen etwas falſches, und zugleich viehiſch wolluͤſtiges herausblickt — und im Munde?“ —
Bedeckt einmal mit der Hand die obere Haͤlfte des Geſichtes — ſetzet die Schiefheit, die durch den
offenbar zu breiten Schatten auf der rechten Seite des Mundes verurſacht wird, auf Rechnung
des Zeichners oder Stechers — Jhr werdet ſchon geneigter ſeyn, Euch mit dieſem Munde zu
verſoͤhnen. Jhr werdet wenigſtens ſicherlich etwas mehr als Gemeines darinn finden.

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 2. Leipzig u. a., 1776, S. 67. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente02_1776/91>, abgerufen am 23.11.2024.