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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 2. Leipzig u. a., 1776.

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VIII. Fragment. Sokrates

Jn dem Obertheile des Kinns ist kraftvoller Verstand.

Jm Untertheile -- furchtbare Kraft.

Der untersetzte, dicke, kurze Nacken -- ist nach dem allgemeinen bey allen Nationen
gleichen Urtheil -- Ausdruck des unbeweglichen Sinnes -- Hartnäckigkeit -- -- --

Das sonderbare Gesicht hat Sokrates wenigstens in eben dem Grade, in welchem sein
Charakter überhaupt sonderbar und ausgezeichnet war -- Dieß allein schon -- sollte uns vorläu-
fig auf die Vermuthung bringen -- "es wäre noch Möglichkeit übrig, uns seinethalben mit der
"Physiognomik zu versöhnen?" -- -- Nun aber -- wir haben noch mehr gesehen! haben gese-
hen -- daß dieß Gesicht, so schlecht, so offenbar verzeichnet und vergröbert es ist, dennoch voll der
sprechendsten Züge für einen großen Mann ist; -- daß darinn dasjenige, was den schlimmsten
Eindruck macht, mehr dem Zeichner und dem Grabstichel zuzuschreiben ist, als dem Original. --

Aber ganz läßt sich dadurch doch die Schwierigkeit noch nicht heben? -- Aber ließe sie
sich nicht heben, wenn wir die lebende Natur vor uns sähen?

Würden diese Augen, itzt in diesem Standpunkte gezeichnet, itzt fest gestellt, nicht ganz anders
reden, wenn sie sich bewegten, wenn sie uns gerade dann in die Seele blickten, wenn der Edle uns Ehr-
furcht gegen die Gottheit -- Hoffnung der Unsterblichkeit -- oder Einfalt und Bescheidenheit lehrte?

Dieser itzt so fatale Mund -- in einem solchen Augenblick? -- O ihr Menschenbeobachter --
und Menschenfreunde, fühlt Jhr nicht, daß er eine unendlich andere Gestalt annehmen müßte?

O die Mahler, die Bildhauer, die Zeichner -- die alles karrikaturiren -- wie viel mehr,
was schon in der Natur Karrikatur scheint -- die so fertig sind, gerade die fatalsten Momente, die
Momente der schläfrigen Unthätigkeit, in welche der, der ihnen sitzen oder stehen muß, so leicht
versinkt, und beynahe versinken muß, die diese Momente so begierig aufhaschen, und weil sie am
leichtesten nachzuzeichnen sind, so gern -- verewigen!

Noch einmal! Macht das boshafteste Pasquill auf einen Menschen -- tausende werden
ihn immer kenntlich, und vielleicht kenntlicher finden, als im wohl getroffenen Porträte. Man
darf nur das feinere Lebende weglassen -- nur das, was wenig schief ist, mehr schief, was grob
und fleischig ist, noch gröber und fleischiger machen -- O, an tausenden wird's nicht fehlen, die
damit zufrieden sind, die's bewundern!

Die
VIII. Fragment. Sokrates

Jn dem Obertheile des Kinns iſt kraftvoller Verſtand.

Jm Untertheile — furchtbare Kraft.

Der unterſetzte, dicke, kurze Nacken — iſt nach dem allgemeinen bey allen Nationen
gleichen Urtheil — Ausdruck des unbeweglichen Sinnes — Hartnaͤckigkeit — — —

Das ſonderbare Geſicht hat Sokrates wenigſtens in eben dem Grade, in welchem ſein
Charakter uͤberhaupt ſonderbar und ausgezeichnet war — Dieß allein ſchon — ſollte uns vorlaͤu-
fig auf die Vermuthung bringen — „es waͤre noch Moͤglichkeit uͤbrig, uns ſeinethalben mit der
„Phyſiognomik zu verſoͤhnen?“ — — Nun aber — wir haben noch mehr geſehen! haben geſe-
hen — daß dieß Geſicht, ſo ſchlecht, ſo offenbar verzeichnet und vergroͤbert es iſt, dennoch voll der
ſprechendſten Zuͤge fuͤr einen großen Mann iſt; — daß darinn dasjenige, was den ſchlimmſten
Eindruck macht, mehr dem Zeichner und dem Grabſtichel zuzuſchreiben iſt, als dem Original. —

Aber ganz laͤßt ſich dadurch doch die Schwierigkeit noch nicht heben? — Aber ließe ſie
ſich nicht heben, wenn wir die lebende Natur vor uns ſaͤhen?

Wuͤrden dieſe Augen, itzt in dieſem Standpunkte gezeichnet, itzt feſt geſtellt, nicht ganz anders
reden, wenn ſie ſich bewegten, wenn ſie uns gerade dann in die Seele blickten, wenn der Edle uns Ehr-
furcht gegen die Gottheit — Hoffnung der Unſterblichkeit — oder Einfalt und Beſcheidenheit lehrte?

Dieſer itzt ſo fatale Mund — in einem ſolchen Augenblick? — O ihr Menſchenbeobachter —
und Menſchenfreunde, fuͤhlt Jhr nicht, daß er eine unendlich andere Geſtalt annehmen muͤßte?

O die Mahler, die Bildhauer, die Zeichner — die alles karrikaturiren — wie viel mehr,
was ſchon in der Natur Karrikatur ſcheint — die ſo fertig ſind, gerade die fatalſten Momente, die
Momente der ſchlaͤfrigen Unthaͤtigkeit, in welche der, der ihnen ſitzen oder ſtehen muß, ſo leicht
verſinkt, und beynahe verſinken muß, die dieſe Momente ſo begierig aufhaſchen, und weil ſie am
leichteſten nachzuzeichnen ſind, ſo gern — verewigen!

Noch einmal! Macht das boshafteſte Pasquill auf einen Menſchen — tauſende werden
ihn immer kenntlich, und vielleicht kenntlicher finden, als im wohl getroffenen Portraͤte. Man
darf nur das feinere Lebende weglaſſen — nur das, was wenig ſchief iſt, mehr ſchief, was grob
und fleiſchig iſt, noch groͤber und fleiſchiger machen — O, an tauſenden wird’s nicht fehlen, die
damit zufrieden ſind, die’s bewundern!

Die
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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 2. Leipzig u. a., 1776, S. 68. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente02_1776/92>, abgerufen am 23.11.2024.