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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 3. Leipzig u. a., 1777.

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Erklärung eines Gelehrten über die Physiognomik.
ihrer Kraft. Die Ausdrücke ihrer Kleinheit verhalten sich vielleicht bisweilen wie die Flecken der
Sonne zur Sonne -- Man sieht sie nicht mit unbewaffnetem Auge. --

"Artet auch unser Urtheil über Menschen nicht allzusehr nach dem Medium, wodurch wir
"zu sehen gewohnt sind?" -- (O Ja! Ja! Ja!) "Schmellfungus sieht alles durch ein ange-
"laufenes Glas; andere durch ein Prisma, viele, Tugenden im conischen Spiegel, und Laster im
"Sonnenmikroscop." (Wie vortrefflich ausgedrückt!)

"Swift hätte gewiß eine andere Physiognomik geschrieben als Lavater" --

"Es ist noch ein reicher Vorrath übrig. Nationalphysiognomien, die Familie des viel-
"artigen Adamsgeschlechtes; vom Esquimaux an bis zum Griechen. Jn Europa, nur in Deutsch-
"land, welche Verschiedenheit, die keinem Beobachter entwischt? Köpfe mit dem Gepräge der Re-
"gierungsform, welche immer unsere Erziehung vollendet; ruhiger Trotz auf Gesetze im Repu-
"blikaner;
Trotz des Sklaven, der es stolz fühlt, daß er empfangene Prügel wieder austhei-
"len darf; Griechen unterm Perikles und unter Hassan Pacha; Römer im Freystaat, unter
"Kaysern, unterm Pabste; Engländer unter Heinrich dem VIII. und Cromwellen; die so-
"genannten Patrioten Hamken, Pym und Bane haben mich immer durch ihre Bildung frap-
"pirt. Haniok und Lord North. Alle Hauptraritäten der Schönheit nach dem Geschmacke
"verschiedener Nationen." -- --

Jch kann nicht aussprechen, wie ich dem Verfasser dieses Geist- und Kraftvollen Aufsatzes
Dank schuldig bin; wie gütig, daß er, den ich, wiewohl ohne Wissen, beleidigte, und ein Urtheil von
ihm nicht edel genug rügte -- mir diesen Aufsatz -- zum beliebigen Gebrauch übersenden ließ. So,
in dem Tone, mit dem Geiste wünscht' ich mir Belehrungen, Einwürfe, Zurechtweisungen! --
Bedarf's Entschuldigung, ihn hier eingerückt zu haben? oder werden nicht die meisten Leser sagen:
"Mehr dergleichen!" --



Drittes
Phys. Fragm. III Versuch. N

Erklaͤrung eines Gelehrten uͤber die Phyſiognomik.
ihrer Kraft. Die Ausdruͤcke ihrer Kleinheit verhalten ſich vielleicht bisweilen wie die Flecken der
Sonne zur Sonne — Man ſieht ſie nicht mit unbewaffnetem Auge. —

„Artet auch unſer Urtheil uͤber Menſchen nicht allzuſehr nach dem Medium, wodurch wir
„zu ſehen gewohnt ſind?“ — (O Ja! Ja! Ja!) „Schmellfungus ſieht alles durch ein ange-
„laufenes Glas; andere durch ein Prisma, viele, Tugenden im coniſchen Spiegel, und Laſter im
„Sonnenmikroſcop.“ (Wie vortrefflich ausgedruͤckt!)

Swift haͤtte gewiß eine andere Phyſiognomik geſchrieben als Lavater“ —

„Es iſt noch ein reicher Vorrath uͤbrig. Nationalphyſiognomien, die Familie des viel-
„artigen Adamsgeſchlechtes; vom Esquimaux an bis zum Griechen. Jn Europa, nur in Deutſch-
„land, welche Verſchiedenheit, die keinem Beobachter entwiſcht? Koͤpfe mit dem Gepraͤge der Re-
„gierungsform, welche immer unſere Erziehung vollendet; ruhiger Trotz auf Geſetze im Repu-
„blikaner;
Trotz des Sklaven, der es ſtolz fuͤhlt, daß er empfangene Pruͤgel wieder austhei-
„len darf; Griechen unterm Perikles und unter Haſſan Pacha; Roͤmer im Freyſtaat, unter
„Kayſern, unterm Pabſte; Englaͤnder unter Heinrich dem VIII. und Cromwellen; die ſo-
„genannten Patrioten Hamken, Pym und Bane haben mich immer durch ihre Bildung frap-
„pirt. Haniok und Lord North. Alle Hauptraritaͤten der Schoͤnheit nach dem Geſchmacke
„verſchiedener Nationen.“ — —

Jch kann nicht ausſprechen, wie ich dem Verfaſſer dieſes Geiſt- und Kraftvollen Aufſatzes
Dank ſchuldig bin; wie guͤtig, daß er, den ich, wiewohl ohne Wiſſen, beleidigte, und ein Urtheil von
ihm nicht edel genug ruͤgte — mir dieſen Aufſatz — zum beliebigen Gebrauch uͤberſenden ließ. So,
in dem Tone, mit dem Geiſte wuͤnſcht’ ich mir Belehrungen, Einwuͤrfe, Zurechtweiſungen! —
Bedarf’s Entſchuldigung, ihn hier eingeruͤckt zu haben? oder werden nicht die meiſten Leſer ſagen:
„Mehr dergleichen!“ —



Drittes
Phyſ. Fragm. III Verſuch. N
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[97/0147] Erklaͤrung eines Gelehrten uͤber die Phyſiognomik. ihrer Kraft. Die Ausdruͤcke ihrer Kleinheit verhalten ſich vielleicht bisweilen wie die Flecken der Sonne zur Sonne — Man ſieht ſie nicht mit unbewaffnetem Auge. — „Artet auch unſer Urtheil uͤber Menſchen nicht allzuſehr nach dem Medium, wodurch wir „zu ſehen gewohnt ſind?“ — (O Ja! Ja! Ja!) „Schmellfungus ſieht alles durch ein ange- „laufenes Glas; andere durch ein Prisma, viele, Tugenden im coniſchen Spiegel, und Laſter im „Sonnenmikroſcop.“ (Wie vortrefflich ausgedruͤckt!) „Swift haͤtte gewiß eine andere Phyſiognomik geſchrieben als Lavater“ — „Es iſt noch ein reicher Vorrath uͤbrig. Nationalphyſiognomien, die Familie des viel- „artigen Adamsgeſchlechtes; vom Esquimaux an bis zum Griechen. Jn Europa, nur in Deutſch- „land, welche Verſchiedenheit, die keinem Beobachter entwiſcht? Koͤpfe mit dem Gepraͤge der Re- „gierungsform, welche immer unſere Erziehung vollendet; ruhiger Trotz auf Geſetze im Repu- „blikaner; Trotz des Sklaven, der es ſtolz fuͤhlt, daß er empfangene Pruͤgel wieder austhei- „len darf; Griechen unterm Perikles und unter Haſſan Pacha; Roͤmer im Freyſtaat, unter „Kayſern, unterm Pabſte; Englaͤnder unter Heinrich dem VIII. und Cromwellen; die ſo- „genannten Patrioten Hamken, Pym und Bane haben mich immer durch ihre Bildung frap- „pirt. Haniok und Lord North. Alle Hauptraritaͤten der Schoͤnheit nach dem Geſchmacke „verſchiedener Nationen.“ — — Jch kann nicht ausſprechen, wie ich dem Verfaſſer dieſes Geiſt- und Kraftvollen Aufſatzes Dank ſchuldig bin; wie guͤtig, daß er, den ich, wiewohl ohne Wiſſen, beleidigte, und ein Urtheil von ihm nicht edel genug ruͤgte — mir dieſen Aufſatz — zum beliebigen Gebrauch uͤberſenden ließ. So, in dem Tone, mit dem Geiſte wuͤnſcht’ ich mir Belehrungen, Einwuͤrfe, Zurechtweiſungen! — Bedarf’s Entſchuldigung, ihn hier eingeruͤckt zu haben? oder werden nicht die meiſten Leſer ſagen: „Mehr dergleichen!“ — Drittes Phyſ. Fragm. III Verſuch. N

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 3. Leipzig u. a., 1777, S. 97. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente03_1777/147>, abgerufen am 21.11.2024.