Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 3. Leipzig u. a., 1777.
III. Abschnitt. II. Fragment. als hundert für gut gehaltene Menschen, die vielleicht nicht fähig sind, eines der Laster zu begehen,um deren willen wir ihn so sehr verurtheilen -- und als Glieder der Societät verurtheilen müssen.) "Führt mir diese Menschen vor, wird Lavater antworten; ich will sie, wie den Sokra- "Aber wird dadurch nicht manches in die Glosse kommen, was niemals im Texte gewesen "Wir sollen von einem erforschten Charakter auf den Charakter eines Unbekannten schlies- "Qui qualis ab initio processerit et sibi constet." (O wie wahr! wie wichtig! wie warnend und schreckend für den Physiognomisten!) "Wenn diese Chamäleonsseelen eins ums andere verächtlich und groß sind, und doch ihre Jhre Gestalt zeigt, was sie seyn könnten und sollten -- und ihre Miene im Augenblicke ihrer
III. Abſchnitt. II. Fragment. als hundert fuͤr gut gehaltene Menſchen, die vielleicht nicht faͤhig ſind, eines der Laſter zu begehen,um deren willen wir ihn ſo ſehr verurtheilen — und als Glieder der Societaͤt verurtheilen muͤſſen.) „Fuͤhrt mir dieſe Menſchen vor, wird Lavater antworten; ich will ſie, wie den Sokra- „Aber wird dadurch nicht manches in die Gloſſe kommen, was niemals im Texte geweſen „Wir ſollen von einem erforſchten Charakter auf den Charakter eines Unbekannten ſchlieſ- „Qui qualis ab initio proceſſerit et ſibi conſtet.“ (O wie wahr! wie wichtig! wie warnend und ſchreckend fuͤr den Phyſiognomiſten!) „Wenn dieſe Chamaͤleonsſeelen eins ums andere veraͤchtlich und groß ſind, und doch ihre Jhre Geſtalt zeigt, was ſie ſeyn koͤnnten und ſollten — und ihre Miene im Augenblicke ihrer
<TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0146" n="96"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b"><hi rendition="#aq">III.</hi> Abſchnitt. <hi rendition="#aq">II.</hi> Fragment.</hi></fw><lb/> als hundert fuͤr gut gehaltene Menſchen, die vielleicht nicht faͤhig ſind, eines der Laſter zu begehen,<lb/> um deren willen wir ihn ſo ſehr verurtheilen — und als Glieder der Societaͤt verurtheilen<lb/><hi rendition="#fr">muͤſſen.</hi>)</p><lb/> <p>„Fuͤhrt mir dieſe Menſchen vor, wird <hi rendition="#fr">Lavater</hi> antworten; ich will ſie, wie den <hi rendition="#fr">Sokra-<lb/> „tes</hi> commentiren; denn ein kleiner, oft nicht gleich bemerkter Zug erklaͤrt vielleicht, was euch ſo<lb/> „raͤthſelhaft ſchien.“ — —</p><lb/> <p>„Aber wird dadurch nicht manches in die Gloſſe kommen, was niemals im Texte geweſen<lb/> „iſt?“ — (Das koͤnnte geſchehen, und ſollte nicht! Jch will auch zugeben, daß ein gutes Geſicht<lb/> bisweilen auch wie ein Schurke handeln kann — Aber dieß gute Geſicht — einerſeits, wird in dem<lb/> Momente, wo es ſo handelt, nicht mehr ſo gut ſcheinen — und anderſeits hundertmal gegen Eins —<lb/> gut handeln.)</p><lb/> <p>„Wir ſollen von einem erforſchten Charakter auf den Charakter eines Unbekannten ſchlieſ-<lb/> „ſen; — iſt es aber ſo leicht, den Menſchen zu erforſchen? wenn er wandelt in Nacht, und ſich<lb/> „Widerſpruch an Widerſpruch lagert? wenn er periodiſch das Gegentheil iſt von dem, was er war?<lb/> „Denn wie ſelten findet ſich der Mann</p><lb/> <cit> <quote> <hi rendition="#aq">„Qui qualis ab initio proceſſerit et ſibi conſtet.“</hi> </quote> </cit><lb/> <p>(O wie wahr! wie wichtig! wie warnend und ſchreckend fuͤr den Phyſiognomiſten!)<lb/> „Kennten wir den <hi rendition="#fr">Auguſt</hi> allein aus ſeinem Betragen gegen <hi rendition="#fr">Cinna;</hi> den <hi rendition="#fr">Cicero</hi> nur aus ſeinem<lb/> „Conſulate, welche Maͤnner? <hi rendition="#fr">Eliſabeth,</hi> welche Coloſſalfigur unter den Koͤniginnen, und wie<lb/> „klein und veraͤchtlich wird die veraltete Kokette? — <hi rendition="#fr">Jakob der</hi> <hi rendition="#aq">II.</hi> ein tapferer General und ein<lb/> „feiger Koͤnig. Der Koͤnigsraͤcher <hi rendition="#fr">Monk,</hi> ein Sklave ſeines Weibes; <hi rendition="#fr">Algernoon Sidney</hi><lb/> „und <hi rendition="#fr">Rußel,</hi> Patrioten, wie Roͤmer, und von Frankreich erkauft; <hi rendition="#fr">Bakon,</hi> der Vater der Weis-<lb/> „heit — ein beſtechbarer Richter! — Bey Entdeckungen dieſer Art ſchauert man vor den Menſchen<lb/> „zuruͤck; man ſchleudert Freunde und Bekannte wie gluͤhende Kohlen aus der Hand.“ —</p><lb/> <p>„Wenn dieſe Chamaͤleonsſeelen eins ums andere veraͤchtlich und groß ſind, und doch ihre<lb/> „Geſtalt nicht aͤndern, was ſagt denn ihre Geſtalt?“ —</p><lb/> <p>Jhre Geſtalt zeigt, was ſie ſeyn koͤnnten und ſollten — und ihre Miene im Augenblicke<lb/> des Handelns, was ſie ſind! — Jhr <hi rendition="#fr">Geſicht</hi> zeigt ihre <hi rendition="#fr">Kraft,</hi> und ihre <hi rendition="#fr">Miene</hi> die <hi rendition="#fr">Anwendung</hi><lb/> <fw place="bottom" type="catch">ihrer</fw><lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [96/0146]
III. Abſchnitt. II. Fragment.
als hundert fuͤr gut gehaltene Menſchen, die vielleicht nicht faͤhig ſind, eines der Laſter zu begehen,
um deren willen wir ihn ſo ſehr verurtheilen — und als Glieder der Societaͤt verurtheilen
muͤſſen.)
„Fuͤhrt mir dieſe Menſchen vor, wird Lavater antworten; ich will ſie, wie den Sokra-
„tes commentiren; denn ein kleiner, oft nicht gleich bemerkter Zug erklaͤrt vielleicht, was euch ſo
„raͤthſelhaft ſchien.“ — —
„Aber wird dadurch nicht manches in die Gloſſe kommen, was niemals im Texte geweſen
„iſt?“ — (Das koͤnnte geſchehen, und ſollte nicht! Jch will auch zugeben, daß ein gutes Geſicht
bisweilen auch wie ein Schurke handeln kann — Aber dieß gute Geſicht — einerſeits, wird in dem
Momente, wo es ſo handelt, nicht mehr ſo gut ſcheinen — und anderſeits hundertmal gegen Eins —
gut handeln.)
„Wir ſollen von einem erforſchten Charakter auf den Charakter eines Unbekannten ſchlieſ-
„ſen; — iſt es aber ſo leicht, den Menſchen zu erforſchen? wenn er wandelt in Nacht, und ſich
„Widerſpruch an Widerſpruch lagert? wenn er periodiſch das Gegentheil iſt von dem, was er war?
„Denn wie ſelten findet ſich der Mann
„Qui qualis ab initio proceſſerit et ſibi conſtet.“
(O wie wahr! wie wichtig! wie warnend und ſchreckend fuͤr den Phyſiognomiſten!)
„Kennten wir den Auguſt allein aus ſeinem Betragen gegen Cinna; den Cicero nur aus ſeinem
„Conſulate, welche Maͤnner? Eliſabeth, welche Coloſſalfigur unter den Koͤniginnen, und wie
„klein und veraͤchtlich wird die veraltete Kokette? — Jakob der II. ein tapferer General und ein
„feiger Koͤnig. Der Koͤnigsraͤcher Monk, ein Sklave ſeines Weibes; Algernoon Sidney
„und Rußel, Patrioten, wie Roͤmer, und von Frankreich erkauft; Bakon, der Vater der Weis-
„heit — ein beſtechbarer Richter! — Bey Entdeckungen dieſer Art ſchauert man vor den Menſchen
„zuruͤck; man ſchleudert Freunde und Bekannte wie gluͤhende Kohlen aus der Hand.“ —
„Wenn dieſe Chamaͤleonsſeelen eins ums andere veraͤchtlich und groß ſind, und doch ihre
„Geſtalt nicht aͤndern, was ſagt denn ihre Geſtalt?“ —
Jhre Geſtalt zeigt, was ſie ſeyn koͤnnten und ſollten — und ihre Miene im Augenblicke
des Handelns, was ſie ſind! — Jhr Geſicht zeigt ihre Kraft, und ihre Miene die Anwendung
ihrer
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools
|
| URL zu diesem Werk: | https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente03_1777 |
| URL zu dieser Seite: | https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente03_1777/146 |
| Zitationshilfe: | Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 3. Leipzig u. a., 1777, S. 96. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente03_1777/146>, abgerufen am 24.11.2024. |
