Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 3. Leipzig u. a., 1777.IV. Abschnitt. IV. Fragment. Wird diese Verschiedenheit aller Handschriften nicht allgemein anerkannt? -- Was sag' ich?Richten nicht so gar förmliche Tribunale, die sonst auch die Physiognomie des ganzen Menschen verwerfen, über die Physiognomie der Handschrift? das heißt: Setzt man es nicht als die höchste Wahrscheinlichkeit voraus, daß (seltene Menschen ausgenommen) jeder Mensch seine eigene, indivi- duelle, und unnachahmbare, wenigstens selten und schwer ganz nachahmbare Handschrift habe? Und diese unläugbare Verschiedenheit sollte keinen Grund in der würklichen Verschiedenheit Man wird einwenden: "Ebenderselbe Mensch, der doch nur Einen Charakter hat, schreibt Dem möchte aber auch seyn, wie man wollte; so würde diese Verschiedenheit der Schrift will's
IV. Abſchnitt. IV. Fragment. Wird dieſe Verſchiedenheit aller Handſchriften nicht allgemein anerkannt? — Was ſag’ ich?Richten nicht ſo gar foͤrmliche Tribunale, die ſonſt auch die Phyſiognomie des ganzen Menſchen verwerfen, uͤber die Phyſiognomie der Handſchrift? das heißt: Setzt man es nicht als die hoͤchſte Wahrſcheinlichkeit voraus, daß (ſeltene Menſchen ausgenommen) jeder Menſch ſeine eigene, indivi- duelle, und unnachahmbare, wenigſtens ſelten und ſchwer ganz nachahmbare Handſchrift habe? Und dieſe unlaͤugbare Verſchiedenheit ſollte keinen Grund in der wuͤrklichen Verſchiedenheit Man wird einwenden: „Ebenderſelbe Menſch, der doch nur Einen Charakter hat, ſchreibt Dem moͤchte aber auch ſeyn, wie man wollte; ſo wuͤrde dieſe Verſchiedenheit der Schrift will’s
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IV. Abſchnitt. IV. Fragment.
Wird dieſe Verſchiedenheit aller Handſchriften nicht allgemein anerkannt? — Was ſag’ ich?
Richten nicht ſo gar foͤrmliche Tribunale, die ſonſt auch die Phyſiognomie des ganzen Menſchen
verwerfen, uͤber die Phyſiognomie der Handſchrift? das heißt: Setzt man es nicht als die hoͤchſte
Wahrſcheinlichkeit voraus, daß (ſeltene Menſchen ausgenommen) jeder Menſch ſeine eigene, indivi-
duelle, und unnachahmbare, wenigſtens ſelten und ſchwer ganz nachahmbare Handſchrift habe?
Und dieſe unlaͤugbare Verſchiedenheit ſollte keinen Grund in der wuͤrklichen Verſchiedenheit
der menſchlichen Charakter haben?
Man wird einwenden: „Ebenderſelbe Menſch, der doch nur Einen Charakter hat, ſchreibt
„oft ſo verſchieden, wie moͤglich.“ — Jch antworte: „Ebenderſelbe Menſch, der doch nur Einen
„Charakter hat, handelt oft, dem Auſchein nach wenigſtens, ſo verſchieden, wie moͤglich.“ — Und
dennoch .. ſelbſt ſeine verſchiedenſten Handlungen haben Ein Gepraͤge; Eine Faͤrbung; Einen
Gehalt. Der Sanftmuͤthigſte kann zornmuͤthig ſeyn; aber ſein Zorn iſt nur ſein Zorn, und keines
andern. So zuͤrnt kein anderer Zornmuͤthiger, und kein anderer Sanftmuͤthiger, wie er. Sein
Zorn hat daſſelbe Gepraͤge, dieſelbe Tinktur, wie ſeine Sanftmuth. Sein Blut behaͤlt eben die-
ſelbe Miſchung, wenn er zuͤrnt, wie, wenn er ſanftmuͤthig iſt; oder bekoͤmmt wenigſtens nicht die
Miſchung, die das erhitzte Gebluͤte des Zornmuͤthigen hat. Er hat nicht die Nerven, nicht die
Empfindſamkeit, die Reizbarkeit, die den Zornmuͤthigen zum Zornmuͤthigen macht. Gerade ſo
mag es ſich auch mit der Handſchrift verhalten. Wie der Sanftmuͤthige zuͤrnen kann; ſo kann
der Schoͤnſchreiber ſchlecht ſchreiben. Aber ſeine ſchlechte Schrift hat dennoch durchaus einen an-
dern Charakter, als die des Schlechtſchreibers, wenn er ſchlechter, als gewoͤhnlich, ſchreibt. Sei-
ne ſchlechte Schrift hat dennoch etwas von dem Charakter ſeiner Schoͤnſchrift. Und die ſchlechte
Schrift des Schlechtſchreibers etwas von dem Charakter ſeiner beſſern Schrift.
Dem moͤchte aber auch ſeyn, wie man wollte; ſo wuͤrde dieſe Verſchiedenheit der Schrift
eines und deſſelben Menſchen kein Beweis wider die Bedeutſamkeit der Handſchrift, ſondern viel-
mehr ein klarer Beweis dafuͤr ſeyn. Denn eben aus dieſer Verſchiedenheit erhellet, daß ſich die
Handſchrift eines Menſchen nach ſeiner jedesmaligen Lage und Gemuͤthsverfaſſung richte. Derſelbe
Menſch wird mit derſelben Tinte, derſelben Feder, auf demſelben Papiere ſeiner Schrift einen an-
dern Charakter geben, wenn er heftig zuͤrnt — und wenn er liebreich und bruͤderlich troͤſtet. Wer
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