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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 3. Leipzig u. a., 1777.

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Drittes Fragment.
Prestel.
Ein Vollgesicht mit einer kleinen weißen Mütze.
Des III. Ban-
des XLV.
Tafel.
P. R.

Dieser Künstler wird immer mit Geist und Feuer, selten mit reinlicher Zärtlichkeit
arbeiten.

Er hat Gefühl für Größe und Erhabenheit, aber er ist zu unbiegsam, zu hart-
knochigt, um die zarten Umrisse der Erhabenheit nachzuahmen. Sein Gefühl ist nicht aufgehellt
genug, und so seine Arbeiten. Kaum einen Mahler und Zeichner sah' ich, der seinen Charakter,
sein Temperament, seine Leibfarbe so gar, in alle seine Gestalten hinein physiognomisirt, wie die-
ser. Fast sollte man aus seinen Werken mit Sicherheit schließen können -- "der Mann muß
"schwarze Haare haben, und von braungelber Farbe seyn." --

Das Originalgemählde, wornach diese Tafel von ihm selber kopirt, aber bey weitem nicht
erreicht ist, ist das schönste Porträt, das ich gesehen; und ob's gleich nicht vollkommen ist, so ist's
dennoch so täuschend, so kraftvoll, so lebendig, daß ihr gestehen müßt -- "Sein Blick übertrifft
"den eurigen" -- das heißt: "Jhr könnt's nicht so ansehen, wie der Mann euch anzusehen und
"durch seinen Blick festzuhalten scheint." --

Aber hier -- hat das Aug am meisten verloren. Denn obgleich der Blick noch scharf und
durchdringend ist, ist doch der Umriß des Auges kraftlos und schülerhaft.

Die Stirne, die hier viel zu perpendikular erscheint, und die schwerlich bey einer solchen
Nase in dieser Perpendikularität gefunden werden wird, drückt gerade so viel weniger Gefühl
aus -- als sie den Eindruck von Eigensinn schärft.

Diese Nase hat mehr Feuer und Schärfe, als Grazie und Geschmack.

Jn dem Mund und Kinn ist kecker, fester, stolzer Sinn.



Viertes
Y 2
Drittes Fragment.
Preſtel.
Ein Vollgeſicht mit einer kleinen weißen Muͤtze.
Des III. Ban-
des XLV.
Tafel.
P. R.

Dieſer Kuͤnſtler wird immer mit Geiſt und Feuer, ſelten mit reinlicher Zaͤrtlichkeit
arbeiten.

Er hat Gefuͤhl fuͤr Groͤße und Erhabenheit, aber er iſt zu unbiegſam, zu hart-
knochigt, um die zarten Umriſſe der Erhabenheit nachzuahmen. Sein Gefuͤhl iſt nicht aufgehellt
genug, und ſo ſeine Arbeiten. Kaum einen Mahler und Zeichner ſah’ ich, der ſeinen Charakter,
ſein Temperament, ſeine Leibfarbe ſo gar, in alle ſeine Geſtalten hinein phyſiognomiſirt, wie die-
ſer. Faſt ſollte man aus ſeinen Werken mit Sicherheit ſchließen koͤnnen — „der Mann muß
„ſchwarze Haare haben, und von braungelber Farbe ſeyn.“ —

Das Originalgemaͤhlde, wornach dieſe Tafel von ihm ſelber kopirt, aber bey weitem nicht
erreicht iſt, iſt das ſchoͤnſte Portraͤt, das ich geſehen; und ob’s gleich nicht vollkommen iſt, ſo iſt’s
dennoch ſo taͤuſchend, ſo kraftvoll, ſo lebendig, daß ihr geſtehen muͤßt — „Sein Blick uͤbertrifft
„den eurigen“ — das heißt: „Jhr koͤnnt’s nicht ſo anſehen, wie der Mann euch anzuſehen und
„durch ſeinen Blick feſtzuhalten ſcheint.“ —

Aber hier — hat das Aug am meiſten verloren. Denn obgleich der Blick noch ſcharf und
durchdringend iſt, iſt doch der Umriß des Auges kraftlos und ſchuͤlerhaft.

Die Stirne, die hier viel zu perpendikular erſcheint, und die ſchwerlich bey einer ſolchen
Naſe in dieſer Perpendikularitaͤt gefunden werden wird, druͤckt gerade ſo viel weniger Gefuͤhl
aus — als ſie den Eindruck von Eigenſinn ſchaͤrft.

Dieſe Naſe hat mehr Feuer und Schaͤrfe, als Grazie und Geſchmack.

Jn dem Mund und Kinn iſt kecker, feſter, ſtolzer Sinn.



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Y 2
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[171/0277] Drittes Fragment. Preſtel. Ein Vollgeſicht mit einer kleinen weißen Muͤtze. Dieſer Kuͤnſtler wird immer mit Geiſt und Feuer, ſelten mit reinlicher Zaͤrtlichkeit arbeiten. Er hat Gefuͤhl fuͤr Groͤße und Erhabenheit, aber er iſt zu unbiegſam, zu hart- knochigt, um die zarten Umriſſe der Erhabenheit nachzuahmen. Sein Gefuͤhl iſt nicht aufgehellt genug, und ſo ſeine Arbeiten. Kaum einen Mahler und Zeichner ſah’ ich, der ſeinen Charakter, ſein Temperament, ſeine Leibfarbe ſo gar, in alle ſeine Geſtalten hinein phyſiognomiſirt, wie die- ſer. Faſt ſollte man aus ſeinen Werken mit Sicherheit ſchließen koͤnnen — „der Mann muß „ſchwarze Haare haben, und von braungelber Farbe ſeyn.“ — Das Originalgemaͤhlde, wornach dieſe Tafel von ihm ſelber kopirt, aber bey weitem nicht erreicht iſt, iſt das ſchoͤnſte Portraͤt, das ich geſehen; und ob’s gleich nicht vollkommen iſt, ſo iſt’s dennoch ſo taͤuſchend, ſo kraftvoll, ſo lebendig, daß ihr geſtehen muͤßt — „Sein Blick uͤbertrifft „den eurigen“ — das heißt: „Jhr koͤnnt’s nicht ſo anſehen, wie der Mann euch anzuſehen und „durch ſeinen Blick feſtzuhalten ſcheint.“ — Aber hier — hat das Aug am meiſten verloren. Denn obgleich der Blick noch ſcharf und durchdringend iſt, iſt doch der Umriß des Auges kraftlos und ſchuͤlerhaft. Die Stirne, die hier viel zu perpendikular erſcheint, und die ſchwerlich bey einer ſolchen Naſe in dieſer Perpendikularitaͤt gefunden werden wird, druͤckt gerade ſo viel weniger Gefuͤhl aus — als ſie den Eindruck von Eigenſinn ſchaͤrft. Dieſe Naſe hat mehr Feuer und Schaͤrfe, als Grazie und Geſchmack. Jn dem Mund und Kinn iſt kecker, feſter, ſtolzer Sinn. Viertes Y 2

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 3. Leipzig u. a., 1777, S. 171. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente03_1777/277>, abgerufen am 22.11.2024.