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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 3. Leipzig u. a., 1777.

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Allgemeine Betrachtungen.
"worauf sie sich bezieht, so gewiß es sichtbare Gegenstände giebt, die sich auf die itzige Sehens-
"fähigkeit
des Menschen beziehen -- so gewiß es Schälle giebt fürs Ohr, und Speise für den
"Magen."

Diese Glaubensfähigkeit muß ihren Grund mit in der Bildung und Organisation
unsers Körpers haben -- so gewiß diese Glaubensunfähigkeit bey den Thieren in ihrer unedlern,
schlechtern Bildung ihren Grund haben muß.

Wie aufmerksam also soll ich aufs neue das Menschenangesicht betrachten, das diesen höhern
Sinn in sich faßt, den kein Thiergesicht in sich fassen kann!

Religion -- Sensorium für die Gottheit -- und die unsichtbare bessere, das ist, le-
bendigere
und dauerhaftere Welt. Ahndung unsichtbarer Unsterblichkeiten in sichtbaren
Sterblichkeiten.



Nun Ein Wort von der Verschiedenheit wahrer Religionsgefühle.

Philosophische (ich will mich des gewöhnlichen Ausdrucks bedienen) philosophische Re-
ligion -- Glauben an einen unsichtbaren Gott, und eine unsichtbare Gotteswelt -- bloß um
der sichtbaren Welt
willen.

Jsraelitische Religion, Glauben an den Gott Jsraels, und der Jsraeliten -- um der
biblischen Urkunden willen, die, zusammen genommen, das alte Testament heißen. Glaube
an so einen Gott, und so ein Reich Gottes, wie diese Schriften lehren, erst um der Glaubwür-
digkeit dieser Schriften,
dann um ähnlicher Gotteserfahrungen willen.

Christliche Religion -- Glauben an den Vater des Jesus Messias, und sein un-
sichtbares ewiges Reich, um seiner Erscheinung willen in dem göttlich lehrenden, wür-
kenden, leidenden, auferstehenden, alles beherrschenden Jesus Christus.
Leben und we-
ben in dem Gott Christi, und in ähnlichen Erfahrungen dieses Gottes, wie Christus hatte; sol-
cher Gottesgemeinschaft, worinn Er mit der Gottheit stand. Leben und weben in seinem Sinn und seinem Reiche.

Und nun -- sind wir nahe an dem Punkte, wo wir mit unsern Lesern hinkommen wollten.
Dem Einen mag's Abgrund, Höhe wird's andern seyn. Mir ist's fester Boden -- Religion ist

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Allgemeine Betrachtungen.
„worauf ſie ſich bezieht, ſo gewiß es ſichtbare Gegenſtaͤnde giebt, die ſich auf die itzige Sehens-
„faͤhigkeit
des Menſchen beziehen — ſo gewiß es Schaͤlle giebt fuͤrs Ohr, und Speiſe fuͤr den
Magen.

Dieſe Glaubensfaͤhigkeit muß ihren Grund mit in der Bildung und Organiſation
unſers Koͤrpers haben — ſo gewiß dieſe Glaubensunfaͤhigkeit bey den Thieren in ihrer unedlern,
ſchlechtern Bildung ihren Grund haben muß.

Wie aufmerkſam alſo ſoll ich aufs neue das Menſchenangeſicht betrachten, das dieſen hoͤhern
Sinn in ſich faßt, den kein Thiergeſicht in ſich faſſen kann!

Religion — Senſorium fuͤr die Gottheit — und die unſichtbare beſſere, das iſt, le-
bendigere
und dauerhaftere Welt. Ahndung unſichtbarer Unſterblichkeiten in ſichtbaren
Sterblichkeiten.



Nun Ein Wort von der Verſchiedenheit wahrer Religionsgefuͤhle.

Philoſophiſche (ich will mich des gewoͤhnlichen Ausdrucks bedienen) philoſophiſche Re-
ligion — Glauben an einen unſichtbaren Gott, und eine unſichtbare Gotteswelt — bloß um
der ſichtbaren Welt
willen.

Jſraelitiſche Religion, Glauben an den Gott Jſraels, und der Jſraeliten — um der
bibliſchen Urkunden willen, die, zuſammen genommen, das alte Teſtament heißen. Glaube
an ſo einen Gott, und ſo ein Reich Gottes, wie dieſe Schriften lehren, erſt um der Glaubwuͤr-
digkeit dieſer Schriften,
dann um aͤhnlicher Gotteserfahrungen willen.

Chriſtliche Religion — Glauben an den Vater des Jeſus Meſſias, und ſein un-
ſichtbares ewiges Reich, um ſeiner Erſcheinung willen in dem goͤttlich lehrenden, wuͤr-
kenden, leidenden, auferſtehenden, alles beherrſchenden Jeſus Chriſtus.
Leben und we-
ben in dem Gott Chriſti, und in aͤhnlichen Erfahrungen dieſes Gottes, wie Chriſtus hatte; ſol-
cher Gottesgemeinſchaft, worinn Er mit der Gottheit ſtand. Leben und weben in ſeinem Sinn und ſeinem Reiche.

Und nun — ſind wir nahe an dem Punkte, wo wir mit unſern Leſern hinkommen wollten.
Dem Einen mag’s Abgrund, Hoͤhe wird’s andern ſeyn. Mir iſt’s feſter Boden — Religion iſt

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[231/0379] Allgemeine Betrachtungen. „worauf ſie ſich bezieht, ſo gewiß es ſichtbare Gegenſtaͤnde giebt, die ſich auf die itzige Sehens- „faͤhigkeit des Menſchen beziehen — ſo gewiß es Schaͤlle giebt fuͤrs Ohr, und Speiſe fuͤr den „Magen.“ Dieſe Glaubensfaͤhigkeit muß ihren Grund mit in der Bildung und Organiſation unſers Koͤrpers haben — ſo gewiß dieſe Glaubensunfaͤhigkeit bey den Thieren in ihrer unedlern, ſchlechtern Bildung ihren Grund haben muß. Wie aufmerkſam alſo ſoll ich aufs neue das Menſchenangeſicht betrachten, das dieſen hoͤhern Sinn in ſich faßt, den kein Thiergeſicht in ſich faſſen kann! Religion — Senſorium fuͤr die Gottheit — und die unſichtbare beſſere, das iſt, le- bendigere und dauerhaftere Welt. Ahndung unſichtbarer Unſterblichkeiten in ſichtbaren Sterblichkeiten. Nun Ein Wort von der Verſchiedenheit wahrer Religionsgefuͤhle. Philoſophiſche (ich will mich des gewoͤhnlichen Ausdrucks bedienen) philoſophiſche Re- ligion — Glauben an einen unſichtbaren Gott, und eine unſichtbare Gotteswelt — bloß um der ſichtbaren Welt willen. Jſraelitiſche Religion, Glauben an den Gott Jſraels, und der Jſraeliten — um der bibliſchen Urkunden willen, die, zuſammen genommen, das alte Teſtament heißen. Glaube an ſo einen Gott, und ſo ein Reich Gottes, wie dieſe Schriften lehren, erſt um der Glaubwuͤr- digkeit dieſer Schriften, dann um aͤhnlicher Gotteserfahrungen willen. Chriſtliche Religion — Glauben an den Vater des Jeſus Meſſias, und ſein un- ſichtbares ewiges Reich, um ſeiner Erſcheinung willen in dem goͤttlich lehrenden, wuͤr- kenden, leidenden, auferſtehenden, alles beherrſchenden Jeſus Chriſtus. Leben und we- ben in dem Gott Chriſti, und in aͤhnlichen Erfahrungen dieſes Gottes, wie Chriſtus hatte; ſol- cher Gottesgemeinſchaft, worinn Er mit der Gottheit ſtand. Leben und weben in ſeinem Sinn und ſeinem Reiche. Und nun — ſind wir nahe an dem Punkte, wo wir mit unſern Leſern hinkommen wollten. Dem Einen mag’s Abgrund, Hoͤhe wird’s andern ſeyn. Mir iſt’s feſter Boden — Religion iſt mehr

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 3. Leipzig u. a., 1777, S. 231. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente03_1777/379>, abgerufen am 22.11.2024.