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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 3. Leipzig u. a., 1777.

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X. Abschnitt. I. Fragment.
mehr als Tugend; nicht nur weil sie Tugend zeugt, wie die Sonne das Licht -- sondern
weil sie viel unsinnlicher, höher, geistiger ist, als die Tugend.

Tugend erhebt die Menschheit über die Thierheit, und ich möchte, wenn's nicht mißver-
standen würde, so gern beyfügen: Religion erhebt die Menschheit über die Menschheit. Tu-
gend
macht den Menschen zum Menschen: Religion macht den Menschen zum Engel. Tu-
gend
würkt die besten, edelsten Freuden, für die gegenwärtige sichtbare Welt: Religion
Freuden des Himmels und der Ewigkeit. Um wie viel höher der Mensch durch Tugendfähig-
keit
über die Thiere erhaben ist -- um so viel höher der tugendhafte Religiose über den Tu-
gendhaften ohne Religion.
Wie das Thier nicht reichen kann in das moralische Empfindungs-
system des tugendhaften Menschen; so der bloß Tugendhafte, als solcher, nicht in das eben so viel
höhere System, in das eben so viel geistigere Reich des Religiosen. Tugend ist Religion der
Erde: Religion -- Tugend des Himmels.
Der bloß Tugendhafte ohne Religion -- kann
nie so tugendhaft werden, wie der Religiose; so wenig der Mond leuchten kann wie die Sonne.

Es ist, in wie manchem Sinne, wahr -- Ein Senfkorn Glaubens, der in die unsicht-
bare Welt dringt, aus dieser schöpft und nimmt, gerade so beherzt und zweifellos da schöpft, wie
aus der sichtbaren -- -- Ein Senfkorn solchen Glaubens versetzt Berge, dringt durch alles,
würkt in alles, trägt alles, duldet alles, überwindet alles.

Der Jsraelite -- hat Kraft seiner Religion, woferne sie nicht Schall, Wort, Nach-
geschwätz, sondern Glaube ist, Glaube, der, wie jeder in der Welt -- Stelle des Anschauens,
Stelle der unmittelbaren Erfahrung
vertritt -- oder sonst nichts ist -- der Jsraelite hat
Kraft seiner Religion -- das übrige gleich gerechnet, mehr Stärke zu dulden, und auf göttliche
Weise zu würken -- als die bloß philosophische Religion nie haben kann. Denn auch die soge-
nannte -- ja wohl -- sogenannte -- Naturreligion ist schon mit in der israelitischen einge-
schlossen -- Denn der Gott Jakobs ist's, der den Himmel und die Erde gemacht hat,
das Meer und alles, was darinnen ist.

Der Christ -- wo ist er, daß ich sein Angesicht sehe, und in seinem Angesichte die Liebe
und Weisheit und Kraft Jesus Christus, und seines ewig -- unsichtbaren Vaters? -- Der
Christ, der weiß, an wen er glaubt, der des Lebens und der Allvermögenheit Christi, wie seines

eigenen

X. Abſchnitt. I. Fragment.
mehr als Tugend; nicht nur weil ſie Tugend zeugt, wie die Sonne das Licht — ſondern
weil ſie viel unſinnlicher, hoͤher, geiſtiger iſt, als die Tugend.

Tugend erhebt die Menſchheit uͤber die Thierheit, und ich moͤchte, wenn’s nicht mißver-
ſtanden wuͤrde, ſo gern beyfuͤgen: Religion erhebt die Menſchheit uͤber die Menſchheit. Tu-
gend
macht den Menſchen zum Menſchen: Religion macht den Menſchen zum Engel. Tu-
gend
wuͤrkt die beſten, edelſten Freuden, fuͤr die gegenwaͤrtige ſichtbare Welt: Religion
Freuden des Himmels und der Ewigkeit. Um wie viel hoͤher der Menſch durch Tugendfaͤhig-
keit
uͤber die Thiere erhaben iſt — um ſo viel hoͤher der tugendhafte Religioſe uͤber den Tu-
gendhaften ohne Religion.
Wie das Thier nicht reichen kann in das moraliſche Empfindungs-
ſyſtem des tugendhaften Menſchen; ſo der bloß Tugendhafte, als ſolcher, nicht in das eben ſo viel
hoͤhere Syſtem, in das eben ſo viel geiſtigere Reich des Religioſen. Tugend iſt Religion der
Erde: Religion — Tugend des Himmels.
Der bloß Tugendhafte ohne Religion — kann
nie ſo tugendhaft werden, wie der Religioſe; ſo wenig der Mond leuchten kann wie die Sonne.

Es iſt, in wie manchem Sinne, wahr — Ein Senfkorn Glaubens, der in die unſicht-
bare Welt dringt, aus dieſer ſchoͤpft und nimmt, gerade ſo beherzt und zweifellos da ſchoͤpft, wie
aus der ſichtbaren — — Ein Senfkorn ſolchen Glaubens verſetzt Berge, dringt durch alles,
wuͤrkt in alles, traͤgt alles, duldet alles, uͤberwindet alles.

Der Jſraelite — hat Kraft ſeiner Religion, woferne ſie nicht Schall, Wort, Nach-
geſchwaͤtz, ſondern Glaube iſt, Glaube, der, wie jeder in der Welt — Stelle des Anſchauens,
Stelle der unmittelbaren Erfahrung
vertritt — oder ſonſt nichts iſt — der Jſraelite hat
Kraft ſeiner Religion — das uͤbrige gleich gerechnet, mehr Staͤrke zu dulden, und auf goͤttliche
Weiſe zu wuͤrken — als die bloß philoſophiſche Religion nie haben kann. Denn auch die ſoge-
nannte — ja wohl — ſogenannte — Naturreligion iſt ſchon mit in der iſraelitiſchen einge-
ſchloſſen — Denn der Gott Jakobs iſt’s, der den Himmel und die Erde gemacht hat,
das Meer und alles, was darinnen iſt.

Der Chriſt — wo iſt er, daß ich ſein Angeſicht ſehe, und in ſeinem Angeſichte die Liebe
und Weisheit und Kraft Jeſus Chriſtus, und ſeines ewig — unſichtbaren Vaters? — Der
Chriſt, der weiß, an wen er glaubt, der des Lebens und der Allvermoͤgenheit Chriſti, wie ſeines

eigenen
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[232/0380] X. Abſchnitt. I. Fragment. mehr als Tugend; nicht nur weil ſie Tugend zeugt, wie die Sonne das Licht — ſondern weil ſie viel unſinnlicher, hoͤher, geiſtiger iſt, als die Tugend. Tugend erhebt die Menſchheit uͤber die Thierheit, und ich moͤchte, wenn’s nicht mißver- ſtanden wuͤrde, ſo gern beyfuͤgen: Religion erhebt die Menſchheit uͤber die Menſchheit. Tu- gend macht den Menſchen zum Menſchen: Religion macht den Menſchen zum Engel. Tu- gend wuͤrkt die beſten, edelſten Freuden, fuͤr die gegenwaͤrtige ſichtbare Welt: Religion Freuden des Himmels und der Ewigkeit. Um wie viel hoͤher der Menſch durch Tugendfaͤhig- keit uͤber die Thiere erhaben iſt — um ſo viel hoͤher der tugendhafte Religioſe uͤber den Tu- gendhaften ohne Religion. Wie das Thier nicht reichen kann in das moraliſche Empfindungs- ſyſtem des tugendhaften Menſchen; ſo der bloß Tugendhafte, als ſolcher, nicht in das eben ſo viel hoͤhere Syſtem, in das eben ſo viel geiſtigere Reich des Religioſen. Tugend iſt Religion der Erde: Religion — Tugend des Himmels. Der bloß Tugendhafte ohne Religion — kann nie ſo tugendhaft werden, wie der Religioſe; ſo wenig der Mond leuchten kann wie die Sonne. Es iſt, in wie manchem Sinne, wahr — Ein Senfkorn Glaubens, der in die unſicht- bare Welt dringt, aus dieſer ſchoͤpft und nimmt, gerade ſo beherzt und zweifellos da ſchoͤpft, wie aus der ſichtbaren — — Ein Senfkorn ſolchen Glaubens verſetzt Berge, dringt durch alles, wuͤrkt in alles, traͤgt alles, duldet alles, uͤberwindet alles. Der Jſraelite — hat Kraft ſeiner Religion, woferne ſie nicht Schall, Wort, Nach- geſchwaͤtz, ſondern Glaube iſt, Glaube, der, wie jeder in der Welt — Stelle des Anſchauens, Stelle der unmittelbaren Erfahrung vertritt — oder ſonſt nichts iſt — der Jſraelite hat Kraft ſeiner Religion — das uͤbrige gleich gerechnet, mehr Staͤrke zu dulden, und auf goͤttliche Weiſe zu wuͤrken — als die bloß philoſophiſche Religion nie haben kann. Denn auch die ſoge- nannte — ja wohl — ſogenannte — Naturreligion iſt ſchon mit in der iſraelitiſchen einge- ſchloſſen — Denn der Gott Jakobs iſt’s, der den Himmel und die Erde gemacht hat, das Meer und alles, was darinnen iſt. Der Chriſt — wo iſt er, daß ich ſein Angeſicht ſehe, und in ſeinem Angeſichte die Liebe und Weisheit und Kraft Jeſus Chriſtus, und ſeines ewig — unſichtbaren Vaters? — Der Chriſt, der weiß, an wen er glaubt, der des Lebens und der Allvermoͤgenheit Chriſti, wie ſeines eigenen

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 3. Leipzig u. a., 1777, S. 232. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente03_1777/380>, abgerufen am 22.11.2024.