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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 3. Leipzig u. a., 1777.

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Allgemeine Betrachtungen.
innigstes Bedürfniß ist -- nicht abstrakte, sondern conkrete würkliche Menschheit -- nicht nur unüber-
denkliche, allverbreitete, Unendlichkeiten erfüllende Gottheit -- (für die, als solche, kein Senso-
rium in der menschlichen Natur -- zu seyn scheint) daß des Menschen Bedürfniß ist -- men-
schenähnliche
Gottheit -- Gottmenschheit -- oder mit andern Worten: Wem's gegeben ist, zu
verstehen die Worte Christus -- Niemand erkennt den Vater, als nur der Sohn, und
wem es der Sohn offenbaren will -- Wer mich siehet, sieht den Vater
-- oder wer weiß,
daß, wenn er in der Lehre Christus bleibt, er beyde, den Vater und den Sohn, hat: --
O ein solches Angesicht laß mir noch begegnen -- du unerschöpflicher Freudenschöpfer -- daß ich
auf ihm ruhe, oder -- niederfalle -- und fühle -- Hier ist Gottheit, oder sie ist nirgends.



Je reiner, wahrer, wortloser, drangreicher, thatenreicher, stiller, tiefer, inniger, lebendi-
ger der Glaube ist; je weniger er Täuschung; je mehr er Empfindung und Erfahrung Got-
tes, Gottes in Christus ist: desto mehr reinigt sich, heiligt sich, vergöttlicht sich deine Phy-
siognomie,
zur Freude Gottes, und der Engel, die du glaubest, obgleich du sie nicht siehst, und die
dich heißer lieben -- als du nicht glauben kannst -- und zur Freude der wenigen Edeln auf Erden,
denen es gegeben ist, die schwächsten Stralen aus der unsichtbaren Lichtwelt, aus deinem Antlitz
mit stillen Zügen zu trinken.



Auch die Nachäffung, der Nachschall dieser Gesinnungen -- die Wortreligion oder
Heucheley, und die Mischung von Gefühl und Schall, von Wahrheit und Ton, von Geist
und Manier -- auch die drückt sich lesbar genug auf dem Angesichte des Menschen aus. --

O wer kennt die Menschen, und sich selber -- und erkennt alle diese Unsichtbarkeiten nicht
in dem Sichtbaren?



"Ja! wohl in den Mienen zeigt sich aufmerksamen und geübten Blicken so was -- das ist
"alles!" -- Nein, Freund! es ist nicht alles -- auch die besondere Religionsempfänglichkeit
eines jeden Menschen drückt sich nicht bloß in Mienen, nicht in der Bewegung allein, nicht al-
lein in der aus öfterer gleichförmiger Bewegung entspringenden Lage und Falte des Gesichtes --

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Allgemeine Betrachtungen.
innigſtes Beduͤrfniß iſt — nicht abſtrakte, ſondern conkrete wuͤrkliche Menſchheit — nicht nur unuͤber-
denkliche, allverbreitete, Unendlichkeiten erfuͤllende Gottheit — (fuͤr die, als ſolche, kein Senſo-
rium in der menſchlichen Natur — zu ſeyn ſcheint) daß des Menſchen Beduͤrfniß iſt — men-
ſchenaͤhnliche
Gottheit — Gottmenſchheit — oder mit andern Worten: Wem’s gegeben iſt, zu
verſtehen die Worte Chriſtus — Niemand erkennt den Vater, als nur der Sohn, und
wem es der Sohn offenbaren will — Wer mich ſiehet, ſieht den Vater
— oder wer weiß,
daß, wenn er in der Lehre Chriſtus bleibt, er beyde, den Vater und den Sohn, hat: —
O ein ſolches Angeſicht laß mir noch begegnen — du unerſchoͤpflicher Freudenſchoͤpfer — daß ich
auf ihm ruhe, oder — niederfalle — und fuͤhle — Hier iſt Gottheit, oder ſie iſt nirgends.



Je reiner, wahrer, wortloſer, drangreicher, thatenreicher, ſtiller, tiefer, inniger, lebendi-
ger der Glaube iſt; je weniger er Taͤuſchung; je mehr er Empfindung und Erfahrung Got-
tes, Gottes in Chriſtus iſt: deſto mehr reinigt ſich, heiligt ſich, vergoͤttlicht ſich deine Phy-
ſiognomie,
zur Freude Gottes, und der Engel, die du glaubeſt, obgleich du ſie nicht ſiehſt, und die
dich heißer lieben — als du nicht glauben kannſt — und zur Freude der wenigen Edeln auf Erden,
denen es gegeben iſt, die ſchwaͤchſten Stralen aus der unſichtbaren Lichtwelt, aus deinem Antlitz
mit ſtillen Zuͤgen zu trinken.



Auch die Nachaͤffung, der Nachſchall dieſer Geſinnungen — die Wortreligion oder
Heucheley, und die Miſchung von Gefuͤhl und Schall, von Wahrheit und Ton, von Geiſt
und Manier — auch die druͤckt ſich lesbar genug auf dem Angeſichte des Menſchen aus. —

O wer kennt die Menſchen, und ſich ſelber — und erkennt alle dieſe Unſichtbarkeiten nicht
in dem Sichtbaren?



„Ja! wohl in den Mienen zeigt ſich aufmerkſamen und geuͤbten Blicken ſo was — das iſt
„alles!“ — Nein, Freund! es iſt nicht alles — auch die beſondere Religionsempfaͤnglichkeit
eines jeden Menſchen druͤckt ſich nicht bloß in Mienen, nicht in der Bewegung allein, nicht al-
lein in der aus oͤfterer gleichfoͤrmiger Bewegung entſpringenden Lage und Falte des Geſichtes —

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[243/0391] Allgemeine Betrachtungen. innigſtes Beduͤrfniß iſt — nicht abſtrakte, ſondern conkrete wuͤrkliche Menſchheit — nicht nur unuͤber- denkliche, allverbreitete, Unendlichkeiten erfuͤllende Gottheit — (fuͤr die, als ſolche, kein Senſo- rium in der menſchlichen Natur — zu ſeyn ſcheint) daß des Menſchen Beduͤrfniß iſt — men- ſchenaͤhnliche Gottheit — Gottmenſchheit — oder mit andern Worten: Wem’s gegeben iſt, zu verſtehen die Worte Chriſtus — Niemand erkennt den Vater, als nur der Sohn, und wem es der Sohn offenbaren will — Wer mich ſiehet, ſieht den Vater — oder wer weiß, daß, wenn er in der Lehre Chriſtus bleibt, er beyde, den Vater und den Sohn, hat: — O ein ſolches Angeſicht laß mir noch begegnen — du unerſchoͤpflicher Freudenſchoͤpfer — daß ich auf ihm ruhe, oder — niederfalle — und fuͤhle — Hier iſt Gottheit, oder ſie iſt nirgends. Je reiner, wahrer, wortloſer, drangreicher, thatenreicher, ſtiller, tiefer, inniger, lebendi- ger der Glaube iſt; je weniger er Taͤuſchung; je mehr er Empfindung und Erfahrung Got- tes, Gottes in Chriſtus iſt: deſto mehr reinigt ſich, heiligt ſich, vergoͤttlicht ſich deine Phy- ſiognomie, zur Freude Gottes, und der Engel, die du glaubeſt, obgleich du ſie nicht ſiehſt, und die dich heißer lieben — als du nicht glauben kannſt — und zur Freude der wenigen Edeln auf Erden, denen es gegeben iſt, die ſchwaͤchſten Stralen aus der unſichtbaren Lichtwelt, aus deinem Antlitz mit ſtillen Zuͤgen zu trinken. Auch die Nachaͤffung, der Nachſchall dieſer Geſinnungen — die Wortreligion oder Heucheley, und die Miſchung von Gefuͤhl und Schall, von Wahrheit und Ton, von Geiſt und Manier — auch die druͤckt ſich lesbar genug auf dem Angeſichte des Menſchen aus. — O wer kennt die Menſchen, und ſich ſelber — und erkennt alle dieſe Unſichtbarkeiten nicht in dem Sichtbaren? „Ja! wohl in den Mienen zeigt ſich aufmerkſamen und geuͤbten Blicken ſo was — das iſt „alles!“ — Nein, Freund! es iſt nicht alles — auch die beſondere Religionsempfaͤnglichkeit eines jeden Menſchen druͤckt ſich nicht bloß in Mienen, nicht in der Bewegung allein, nicht al- lein in der aus oͤfterer gleichfoͤrmiger Bewegung entſpringenden Lage und Falte des Geſichtes — aus; H h 2

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 3. Leipzig u. a., 1777, S. 243. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente03_1777/391>, abgerufen am 22.11.2024.