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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 3. Leipzig u. a., 1777.

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Allgemeine Betrachtungen.
men -- und ausbreiten -- und auch die Knochen nach und nach durchglühen, reinigen, und sie wie-
der in ihre Urform zurecht modeln.

Siehe! das ist eigentlich das Werk dessen, der das zerknickte Rohr nicht zerbricht,
und den glimmenden Tocht nicht auslöscht
-- und an Himmel und Erde bezeugt hat -- "man
"soll der vorigen Dinge nicht mehr gedenken.
"

Himmel und Erde werden vergehen; aber deine Worte, Göttlicher, nicht; deß
freue ich mich, und werde mich freuen, so lang ich athmen kann.



Jch glaube, so weit ich bis itzt nachforschen konnte, drey Hauptklassen von religiosen
Menschenbildungen bemerkt zu haben -- wiederum die drey schon im zweyten Bande zum Theil
auf dem Tittelblatte angegebenen Linien -- a) gespannte, oder harte, (wie zum Exempel Cal-
vin
) b) weichliche, weibliche, (wie etwa Zinzendorf) (man sieht ein Bild von ihm auf der er-
sten Seite dieses Abschnitts, und einige werden noch folgen) c) gerade und freyhinschweben-
de,
der höchsten Strenge und der schmelzendsten Güte fähige -- wie Paulus und Johannes.

Man bemerke wohl, daß ich von religiosen Seelen rede, nicht bloß von tugendhaften.

Nicht von Leuten, die Religionsanmaßung machen -- und in denen doch der Religions-
sinn
ganz zu schlafen scheint.



Die einen, die härter zusammengesetzt sind, und doch Religionsbedürfniß haben -- denken
sich gern in furchtbare höhere Unsichtbarkeiten hinein; glauben schneller an das, was schreckt und
niederschlägt. Die andern, die aus weicherm Stoffe gebildet sind, glauben schneller an Liebevolle
Wesen aus der unsichtbaren Welt. Wenigen ist's gegeben, mit gleich offenem Wahrheitssinn al-
les anzunehmen -- was die menschliche Natur entzückt, und wovor sie zittert -- und, wann sie sich
freuen, und wann sie bittere Thränen vergießen, zu glauben --

Gott ist die Liebe.

Die
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Allgemeine Betrachtungen.
men — und ausbreiten — und auch die Knochen nach und nach durchgluͤhen, reinigen, und ſie wie-
der in ihre Urform zurecht modeln.

Siehe! das iſt eigentlich das Werk deſſen, der das zerknickte Rohr nicht zerbricht,
und den glimmenden Tocht nicht ausloͤſcht
— und an Himmel und Erde bezeugt hat — „man
„ſoll der vorigen Dinge nicht mehr gedenken.

Himmel und Erde werden vergehen; aber deine Worte, Goͤttlicher, nicht; deß
freue ich mich, und werde mich freuen, ſo lang ich athmen kann.



Jch glaube, ſo weit ich bis itzt nachforſchen konnte, drey Hauptklaſſen von religioſen
Menſchenbildungen bemerkt zu haben — wiederum die drey ſchon im zweyten Bande zum Theil
auf dem Tittelblatte angegebenen Linien — a) geſpannte, oder harte, (wie zum Exempel Cal-
vin
) b) weichliche, weibliche, (wie etwa Zinzendorf) (man ſieht ein Bild von ihm auf der er-
ſten Seite dieſes Abſchnitts, und einige werden noch folgen) c) gerade und freyhinſchweben-
de,
der hoͤchſten Strenge und der ſchmelzendſten Guͤte faͤhige — wie Paulus und Johannes.

Man bemerke wohl, daß ich von religioſen Seelen rede, nicht bloß von tugendhaften.

Nicht von Leuten, die Religionsanmaßung machen — und in denen doch der Religions-
ſinn
ganz zu ſchlafen ſcheint.



Die einen, die haͤrter zuſammengeſetzt ſind, und doch Religionsbeduͤrfniß haben — denken
ſich gern in furchtbare hoͤhere Unſichtbarkeiten hinein; glauben ſchneller an das, was ſchreckt und
niederſchlaͤgt. Die andern, die aus weicherm Stoffe gebildet ſind, glauben ſchneller an Liebevolle
Weſen aus der unſichtbaren Welt. Wenigen iſt’s gegeben, mit gleich offenem Wahrheitsſinn al-
les anzunehmen — was die menſchliche Natur entzuͤckt, und wovor ſie zittert — und, wann ſie ſich
freuen, und wann ſie bittere Thraͤnen vergießen, zu glauben —

Gott iſt die Liebe.

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[245/0393] Allgemeine Betrachtungen. men — und ausbreiten — und auch die Knochen nach und nach durchgluͤhen, reinigen, und ſie wie- der in ihre Urform zurecht modeln. Siehe! das iſt eigentlich das Werk deſſen, der das zerknickte Rohr nicht zerbricht, und den glimmenden Tocht nicht ausloͤſcht — und an Himmel und Erde bezeugt hat — „man „ſoll der vorigen Dinge nicht mehr gedenken.“ Himmel und Erde werden vergehen; aber deine Worte, Goͤttlicher, nicht; deß freue ich mich, und werde mich freuen, ſo lang ich athmen kann. Jch glaube, ſo weit ich bis itzt nachforſchen konnte, drey Hauptklaſſen von religioſen Menſchenbildungen bemerkt zu haben — wiederum die drey ſchon im zweyten Bande zum Theil auf dem Tittelblatte angegebenen Linien — a) geſpannte, oder harte, (wie zum Exempel Cal- vin) b) weichliche, weibliche, (wie etwa Zinzendorf) (man ſieht ein Bild von ihm auf der er- ſten Seite dieſes Abſchnitts, und einige werden noch folgen) c) gerade und freyhinſchweben- de, der hoͤchſten Strenge und der ſchmelzendſten Guͤte faͤhige — wie Paulus und Johannes. Man bemerke wohl, daß ich von religioſen Seelen rede, nicht bloß von tugendhaften. Nicht von Leuten, die Religionsanmaßung machen — und in denen doch der Religions- ſinn ganz zu ſchlafen ſcheint. Die einen, die haͤrter zuſammengeſetzt ſind, und doch Religionsbeduͤrfniß haben — denken ſich gern in furchtbare hoͤhere Unſichtbarkeiten hinein; glauben ſchneller an das, was ſchreckt und niederſchlaͤgt. Die andern, die aus weicherm Stoffe gebildet ſind, glauben ſchneller an Liebevolle Weſen aus der unſichtbaren Welt. Wenigen iſt’s gegeben, mit gleich offenem Wahrheitsſinn al- les anzunehmen — was die menſchliche Natur entzuͤckt, und wovor ſie zittert — und, wann ſie ſich freuen, und wann ſie bittere Thraͤnen vergießen, zu glauben — Gott iſt die Liebe. Die H h 3

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 3. Leipzig u. a., 1777, S. 245. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente03_1777/393>, abgerufen am 22.11.2024.