Richts in der Welt, selbst das glänzendste Verdienst, wird so sehr beneidet, als die Freundschaft. Man glaubt so selten an Freundschaft, als an Christenthum. Man hat es stillschweigend gleichsam ausgemacht, daß es wider alle Gesetze der Höflichkeit und des Wohlstandes laufe, in einer Gesell- schaft gesitteter Menschen von dem einen oder von dem andern zu reden.
Also weiß ich nicht, ob ich von meinem Freunde reden darf? reden von meines Freundes Religion? Als Physiognomist, dächt' ich, sollt' ich am meisten, sollt' ich beynahe nur von Freun- den reden; wer ist mir besser bekannt? wer am öftersten, am genauesten von mir beobachtet? Wer will mir's doch abläugnen, was ich so ohn' alle Furcht des Gegentheils weiß, wie ich weiß, daß ich Augen habe. Jch habe vom Anschauen, Beobachten und Studieren der Physiognomien meiner we- nigen Freunde mehr Physiognomik gelernet, als aus allen übrigen lebenden und leblosen, gemahlten, gezeichneten, gestochnen Menschengesichtern, alle Bücher mit eingerechnet -- und dennoch soll der Physiognomist nicht von seinen Freunden reden dürfen? O Welt! o Jahrhundert, in das ich ge- worfen bin! laß mich eine Zähre weinen, und .... verstummen! ... Nein! nicht ganz verstummen. Jch schreibe ja für Menschen, und nicht für .. Hunde -- Sey übrigens sicher, Leser, vor der Stim- me des Enthusiasmus; (nunmehr das einzige Gespenst, dem das Jahrhundert hohnlacht; der ein- zige Satan, den es glaubt, und im Namen der gesunden Vernunft -- austreibt!) Jch will eiskalt schreiben, um deinetwillen, unerbittliches Jahrhundert -- noch mehr aber, um deine Bescheidenheit nicht zu beleidigen, bester unter allen meinen Freunden, und das Heilige, deine Religion, nicht Preiß zu geben.
Des III. Ban- des LXXII. Tafel.
Sehr leicht zu kennen, und dennoch sehr unwahr ist das Bild, das wir vor uns ha- ben -- wer Zeichnung und Physiognomie versteht, wird gleich, auch ohne Kenntniß des Urbildes, Verspannung, Disharmonie im Ganzen wahrnehmen. Es ist kein wahrer Blick da; keine Einfachheit; kein bestimmter Moment; -- Zusammensetzung verschiedener wahrer, halbwahrer und angedichteter, sich widersprechender Momente -- ist auffallend. Dieß Auge, freylich kein gemeines Auge -- aber es harmonirt nicht mit dem Bogen der trefflichen Stirne! -- Die um etwas zu lange,
und
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Religioſe.
Achtes Fragment. Ein maͤnnliches Profil.Pf.
Richts in der Welt, ſelbſt das glaͤnzendſte Verdienſt, wird ſo ſehr beneidet, als die Freundſchaft. Man glaubt ſo ſelten an Freundſchaft, als an Chriſtenthum. Man hat es ſtillſchweigend gleichſam ausgemacht, daß es wider alle Geſetze der Hoͤflichkeit und des Wohlſtandes laufe, in einer Geſell- ſchaft geſitteter Menſchen von dem einen oder von dem andern zu reden.
Alſo weiß ich nicht, ob ich von meinem Freunde reden darf? reden von meines Freundes Religion? Als Phyſiognomiſt, daͤcht’ ich, ſollt’ ich am meiſten, ſollt’ ich beynahe nur von Freun- den reden; wer iſt mir beſſer bekannt? wer am oͤfterſten, am genaueſten von mir beobachtet? Wer will mir’s doch ablaͤugnen, was ich ſo ohn’ alle Furcht des Gegentheils weiß, wie ich weiß, daß ich Augen habe. Jch habe vom Anſchauen, Beobachten und Studieren der Phyſiognomien meiner we- nigen Freunde mehr Phyſiognomik gelernet, als aus allen uͤbrigen lebenden und lebloſen, gemahlten, gezeichneten, geſtochnen Menſchengeſichtern, alle Buͤcher mit eingerechnet — und dennoch ſoll der Phyſiognomiſt nicht von ſeinen Freunden reden duͤrfen? O Welt! o Jahrhundert, in das ich ge- worfen bin! laß mich eine Zaͤhre weinen, und .... verſtummen! ... Nein! nicht ganz verſtummen. Jch ſchreibe ja fuͤr Menſchen, und nicht fuͤr .. Hunde — Sey uͤbrigens ſicher, Leſer, vor der Stim- me des Enthuſiasmus; (nunmehr das einzige Geſpenſt, dem das Jahrhundert hohnlacht; der ein- zige Satan, den es glaubt, und im Namen der geſunden Vernunft — austreibt!) Jch will eiskalt ſchreiben, um deinetwillen, unerbittliches Jahrhundert — noch mehr aber, um deine Beſcheidenheit nicht zu beleidigen, beſter unter allen meinen Freunden, und das Heilige, deine Religion, nicht Preiß zu geben.
Des III. Ban- des LXXII. Tafel.
Sehr leicht zu kennen, und dennoch ſehr unwahr iſt das Bild, das wir vor uns ha- ben — wer Zeichnung und Phyſiognomie verſteht, wird gleich, auch ohne Kenntniß des Urbildes, Verſpannung, Disharmonie im Ganzen wahrnehmen. Es iſt kein wahrer Blick da; keine Einfachheit; kein beſtimmter Moment; — Zuſammenſetzung verſchiedener wahrer, halbwahrer und angedichteter, ſich widerſprechender Momente — iſt auffallend. Dieß Auge, freylich kein gemeines Auge — aber es harmonirt nicht mit dem Bogen der trefflichen Stirne! — Die um etwas zu lange,
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Religioſe.
Achtes Fragment.
Ein maͤnnliches Profil. Pf.
Richts in der Welt, ſelbſt das glaͤnzendſte Verdienſt, wird ſo ſehr beneidet, als die Freundſchaft.
Man glaubt ſo ſelten an Freundſchaft, als an Chriſtenthum. Man hat es ſtillſchweigend gleichſam
ausgemacht, daß es wider alle Geſetze der Hoͤflichkeit und des Wohlſtandes laufe, in einer Geſell-
ſchaft geſitteter Menſchen von dem einen oder von dem andern zu reden.
Alſo weiß ich nicht, ob ich von meinem Freunde reden darf? reden von meines Freundes
Religion? Als Phyſiognomiſt, daͤcht’ ich, ſollt’ ich am meiſten, ſollt’ ich beynahe nur von Freun-
den reden; wer iſt mir beſſer bekannt? wer am oͤfterſten, am genaueſten von mir beobachtet? Wer
will mir’s doch ablaͤugnen, was ich ſo ohn’ alle Furcht des Gegentheils weiß, wie ich weiß, daß ich
Augen habe. Jch habe vom Anſchauen, Beobachten und Studieren der Phyſiognomien meiner we-
nigen Freunde mehr Phyſiognomik gelernet, als aus allen uͤbrigen lebenden und lebloſen, gemahlten,
gezeichneten, geſtochnen Menſchengeſichtern, alle Buͤcher mit eingerechnet — und dennoch ſoll der
Phyſiognomiſt nicht von ſeinen Freunden reden duͤrfen? O Welt! o Jahrhundert, in das ich ge-
worfen bin! laß mich eine Zaͤhre weinen, und .... verſtummen! ... Nein! nicht ganz verſtummen.
Jch ſchreibe ja fuͤr Menſchen, und nicht fuͤr .. Hunde — Sey uͤbrigens ſicher, Leſer, vor der Stim-
me des Enthuſiasmus; (nunmehr das einzige Geſpenſt, dem das Jahrhundert hohnlacht; der ein-
zige Satan, den es glaubt, und im Namen der geſunden Vernunft — austreibt!) Jch will eiskalt
ſchreiben, um deinetwillen, unerbittliches Jahrhundert — noch mehr aber, um deine Beſcheidenheit
nicht zu beleidigen, beſter unter allen meinen Freunden, und das Heilige, deine Religion, nicht
Preiß zu geben.
Sehr leicht zu kennen, und dennoch ſehr unwahr iſt das Bild, das wir vor uns ha-
ben — wer Zeichnung und Phyſiognomie verſteht, wird gleich, auch ohne Kenntniß des
Urbildes, Verſpannung, Disharmonie im Ganzen wahrnehmen. Es iſt kein wahrer Blick da; keine
Einfachheit; kein beſtimmter Moment; — Zuſammenſetzung verſchiedener wahrer, halbwahrer und
angedichteter, ſich widerſprechender Momente — iſt auffallend. Dieß Auge, freylich kein gemeines
Auge — aber es harmonirt nicht mit dem Bogen der trefflichen Stirne! — Die um etwas zu lange,
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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 3. Leipzig u. a., 1777, S. 259. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente03_1777/419>, abgerufen am 24.11.2024.
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