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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 3. Leipzig u. a., 1777.

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X. Abschnitt. VIII. Fragment.
und im äußersten Umriß auf dem Rücken um ein Haar verzeichnete Nase -- kontrastirt mit dem,
freylich nur wenig, zu kleinen Auge! Weg ist alle Grazie der liebevollen Natur aus dem Mund
und der Gegend um den Mund herum; kurz, alles angewandten Fleißes ungeachtet, für ein phy-
siognomisches Aug ist und bleibt das Bild -- Pasquill; -- und dennoch -- auch nur so unvollkom-
men, wie's da ist, so fatal disharmonisch, so hinstaunend, ist die Stirn reiner Charakter des freyen,
hellen und tiefen Denkens -- nicht des höchsten und schärfsten Denkens; warum nicht? Jch erstau-
ne vor der Wahrheit. Erstaunet mit mir, Anbeter des alles so scharf ausmessenden Gottes. -- War-
um nicht? -- Um der geringen Höhlung des Umrisses willen. Man denke sich diese Linie scharf an-
gezogen -- und dieser Kopf wird einer der mathematischsten Köpfe, der abstraktesten Ergründer seyn,
aber dann auch schon nicht mehr so zur feinern Religionsempfänglichkeit gebildet. So aber, wie sie
da ist, ist die Stirne voll gesunden, unbestechlichen, kaum verführbaren Menschenverstandes, den
Freund und Feind .. wenn's möglich ist, daß die sanfte Seele Feinde habe? weder dem Urbilde,
noch dem Nachbilde, in Ansehung des Ausdrucks absprechen kann. Nicht Verstand des Durchbre-
chers, des Eroberers; nicht Genie, das Gebäude entwirft und hinstellt; nicht Reichthum poetischer
Erfindungskraft; -- aber heitere, gesunde, feste, männliche Logik, die immer lehrt und lernt; -- die
hat ihren Sitz in dieser Stirne meines Freundes, und wenn ich einen Feind habe, meines Feindes.
Schüler der Wahrheit! ich führe dich nicht irre ... Hundertfache Erfahrung, ohne einen einzigen
Widerspruch, macht mich kühn -- abstrahire dir von dieser Stirne -- die Linie des gesunden, hellen
Menschenverstandes.

Heiter, demüthig, sanftfühlend, innig, liegend zu den Füßen des unendlichen Erbarmers ist
die Religion dieses Mannes. Die geringste Schönheit führt ihn zum Quell und Urbilde der Schön-
heit. Für die geringste Regung der Tugend hat er eine willige Freudenzähre in Bereitschaft. Und
wo er Religion erblickt, da möcht' er niedersinken und anbeten. Aber freylich so heiter, froh, empfind-
sam, hoch und tief strebend ist nicht dieses Bildes Religion. Alles, was sich in Absicht auf Religion
davon sagen läßt, wär' etwa: Verschleyerte, umnebelte Religion in der Miene! Jn der Form
wohlprüfende, das wahre, denkbare, fühlbare mit Sinn und Gefühl schnell aufnehmende Religion!

Vollkommen dem entsprechend ist auch in diesem Bilde die Nase -- obgleich sie weder feu-
rig, noch scharfknorpelig ist.

Jm

X. Abſchnitt. VIII. Fragment.
und im aͤußerſten Umriß auf dem Ruͤcken um ein Haar verzeichnete Naſe — kontraſtirt mit dem,
freylich nur wenig, zu kleinen Auge! Weg iſt alle Grazie der liebevollen Natur aus dem Mund
und der Gegend um den Mund herum; kurz, alles angewandten Fleißes ungeachtet, fuͤr ein phy-
ſiognomiſches Aug iſt und bleibt das Bild — Pasquill; — und dennoch — auch nur ſo unvollkom-
men, wie’s da iſt, ſo fatal disharmoniſch, ſo hinſtaunend, iſt die Stirn reiner Charakter des freyen,
hellen und tiefen Denkens — nicht des hoͤchſten und ſchaͤrfſten Denkens; warum nicht? Jch erſtau-
ne vor der Wahrheit. Erſtaunet mit mir, Anbeter des alles ſo ſcharf ausmeſſenden Gottes. — War-
um nicht? — Um der geringen Hoͤhlung des Umriſſes willen. Man denke ſich dieſe Linie ſcharf an-
gezogen — und dieſer Kopf wird einer der mathematiſchſten Koͤpfe, der abſtrakteſten Ergruͤnder ſeyn,
aber dann auch ſchon nicht mehr ſo zur feinern Religionsempfaͤnglichkeit gebildet. So aber, wie ſie
da iſt, iſt die Stirne voll geſunden, unbeſtechlichen, kaum verfuͤhrbaren Menſchenverſtandes, den
Freund und Feind .. wenn’s moͤglich iſt, daß die ſanfte Seele Feinde habe? weder dem Urbilde,
noch dem Nachbilde, in Anſehung des Ausdrucks abſprechen kann. Nicht Verſtand des Durchbre-
chers, des Eroberers; nicht Genie, das Gebaͤude entwirft und hinſtellt; nicht Reichthum poetiſcher
Erfindungskraft; — aber heitere, geſunde, feſte, maͤnnliche Logik, die immer lehrt und lernt; — die
hat ihren Sitz in dieſer Stirne meines Freundes, und wenn ich einen Feind habe, meines Feindes.
Schuͤler der Wahrheit! ich fuͤhre dich nicht irre ... Hundertfache Erfahrung, ohne einen einzigen
Widerſpruch, macht mich kuͤhn — abſtrahire dir von dieſer Stirne — die Linie des geſunden, hellen
Menſchenverſtandes.

Heiter, demuͤthig, ſanftfuͤhlend, innig, liegend zu den Fuͤßen des unendlichen Erbarmers iſt
die Religion dieſes Mannes. Die geringſte Schoͤnheit fuͤhrt ihn zum Quell und Urbilde der Schoͤn-
heit. Fuͤr die geringſte Regung der Tugend hat er eine willige Freudenzaͤhre in Bereitſchaft. Und
wo er Religion erblickt, da moͤcht’ er niederſinken und anbeten. Aber freylich ſo heiter, froh, empfind-
ſam, hoch und tief ſtrebend iſt nicht dieſes Bildes Religion. Alles, was ſich in Abſicht auf Religion
davon ſagen laͤßt, waͤr’ etwa: Verſchleyerte, umnebelte Religion in der Miene! Jn der Form
wohlpruͤfende, das wahre, denkbare, fuͤhlbare mit Sinn und Gefuͤhl ſchnell aufnehmende Religion!

Vollkommen dem entſprechend iſt auch in dieſem Bilde die Naſe — obgleich ſie weder feu-
rig, noch ſcharfknorpelig iſt.

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[260/0420] X. Abſchnitt. VIII. Fragment. und im aͤußerſten Umriß auf dem Ruͤcken um ein Haar verzeichnete Naſe — kontraſtirt mit dem, freylich nur wenig, zu kleinen Auge! Weg iſt alle Grazie der liebevollen Natur aus dem Mund und der Gegend um den Mund herum; kurz, alles angewandten Fleißes ungeachtet, fuͤr ein phy- ſiognomiſches Aug iſt und bleibt das Bild — Pasquill; — und dennoch — auch nur ſo unvollkom- men, wie’s da iſt, ſo fatal disharmoniſch, ſo hinſtaunend, iſt die Stirn reiner Charakter des freyen, hellen und tiefen Denkens — nicht des hoͤchſten und ſchaͤrfſten Denkens; warum nicht? Jch erſtau- ne vor der Wahrheit. Erſtaunet mit mir, Anbeter des alles ſo ſcharf ausmeſſenden Gottes. — War- um nicht? — Um der geringen Hoͤhlung des Umriſſes willen. Man denke ſich dieſe Linie ſcharf an- gezogen — und dieſer Kopf wird einer der mathematiſchſten Koͤpfe, der abſtrakteſten Ergruͤnder ſeyn, aber dann auch ſchon nicht mehr ſo zur feinern Religionsempfaͤnglichkeit gebildet. So aber, wie ſie da iſt, iſt die Stirne voll geſunden, unbeſtechlichen, kaum verfuͤhrbaren Menſchenverſtandes, den Freund und Feind .. wenn’s moͤglich iſt, daß die ſanfte Seele Feinde habe? weder dem Urbilde, noch dem Nachbilde, in Anſehung des Ausdrucks abſprechen kann. Nicht Verſtand des Durchbre- chers, des Eroberers; nicht Genie, das Gebaͤude entwirft und hinſtellt; nicht Reichthum poetiſcher Erfindungskraft; — aber heitere, geſunde, feſte, maͤnnliche Logik, die immer lehrt und lernt; — die hat ihren Sitz in dieſer Stirne meines Freundes, und wenn ich einen Feind habe, meines Feindes. Schuͤler der Wahrheit! ich fuͤhre dich nicht irre ... Hundertfache Erfahrung, ohne einen einzigen Widerſpruch, macht mich kuͤhn — abſtrahire dir von dieſer Stirne — die Linie des geſunden, hellen Menſchenverſtandes. Heiter, demuͤthig, ſanftfuͤhlend, innig, liegend zu den Fuͤßen des unendlichen Erbarmers iſt die Religion dieſes Mannes. Die geringſte Schoͤnheit fuͤhrt ihn zum Quell und Urbilde der Schoͤn- heit. Fuͤr die geringſte Regung der Tugend hat er eine willige Freudenzaͤhre in Bereitſchaft. Und wo er Religion erblickt, da moͤcht’ er niederſinken und anbeten. Aber freylich ſo heiter, froh, empfind- ſam, hoch und tief ſtrebend iſt nicht dieſes Bildes Religion. Alles, was ſich in Abſicht auf Religion davon ſagen laͤßt, waͤr’ etwa: Verſchleyerte, umnebelte Religion in der Miene! Jn der Form wohlpruͤfende, das wahre, denkbare, fuͤhlbare mit Sinn und Gefuͤhl ſchnell aufnehmende Religion! Vollkommen dem entſprechend iſt auch in dieſem Bilde die Naſe — obgleich ſie weder feu- rig, noch ſcharfknorpelig iſt. Jm

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 3. Leipzig u. a., 1777, S. 260. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente03_1777/420>, abgerufen am 24.11.2024.