Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 3. Leipzig u. a., 1777.Physiognomik, Pfeiler der Freundschaft und Achtung. Warum gefallen oder mißfallen uns gewisse Leute auf zehen Schritte, und nicht auf vier? Alles -- um der Physiognomie willen, und um des Verhältnisses, oder Mißverhältnisses Wenn ich Verstand, wenn ich Kunstfähigkeit, wenn ich männlichen Muth, wenn ich Zeiget mir, Zweifler -- ein Paar würklich vertraute, und nicht nur vertraute -- würklich Heterogenisch? was ist das? Schnurgerade -- und zirkelrunde Linien! gewaltig Warum konnte Karl der XII. die Frauenspersonen nicht leiden? warum bewunderten Freylich sind die Menschen so gebaut, daß kaum Einer ist, der nicht wenigstens einen verstanden
Phyſiognomik, Pfeiler der Freundſchaft und Achtung. Warum gefallen oder mißfallen uns gewiſſe Leute auf zehen Schritte, und nicht auf vier? Alles — um der Phyſiognomie willen, und um des Verhaͤltniſſes, oder Mißverhaͤltniſſes Wenn ich Verſtand, wenn ich Kunſtfaͤhigkeit, wenn ich maͤnnlichen Muth, wenn ich Zeiget mir, Zweifler — ein Paar wuͤrklich vertraute, und nicht nur vertraute — wuͤrklich Heterogeniſch? was iſt das? Schnurgerade — und zirkelrunde Linien! gewaltig Warum konnte Karl der XII. die Frauensperſonen nicht leiden? warum bewunderten Freylich ſind die Menſchen ſo gebaut, daß kaum Einer iſt, der nicht wenigſtens einen verſtanden
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Phyſiognomik, Pfeiler der Freundſchaft und Achtung.
Warum gefallen oder mißfallen uns gewiſſe Leute auf zehen Schritte, und nicht auf vier?
Alles — um der Phyſiognomie willen, und um des Verhaͤltniſſes, oder Mißverhaͤltniſſes
willen, in welchem ihre Phyſiognomie mit der unſrigen ſteht.
Wenn ich Verſtand, wenn ich Kunſtfaͤhigkeit, wenn ich maͤnnlichen Muth, wenn ich
Empfindung, wenn ich Kaltſinn und Feſtigkeit, wenn ich Unſchuld und Guͤte — ſuche, mich
an Eines von dieſen anlehnen will, anlehnen muß; — und dieſe begegnen mir? — begegnen mir
in den entſchiedenſten, leſerlichſten Zuͤgen? — (und wenn dieſe Eigenſchaften keine entſcheidende, le-
ſerliche Charaktere haben — ſo giebt’s gewiß ganz und gar keine Phyſiognomik und keine Phyſiogno-
mie, und keinen Unterſchied der Dinge) — dieſe Eigenſchaften begegnen mir alſo in unverkennbaren
Zuͤgen! — Jch erkenne ſie — und es ſollte mich nicht freuen, gefunden zu haben, was ich ſuche? Jch
ſollte nicht gewiß ſeyn koͤnnen: „Hier iſt’s, wo ich ausruhen will und kann!“
Zeiget mir, Zweifler — ein Paar wuͤrklich vertraute, und nicht nur vertraute — wuͤrklich
ſich liebende — mit einander leidende, nach einander ſich ſehnende Menſchen — die ihre Thaten
wie ihre Worte, ihre Erkenntniſſe wie ihre Empfindungen ſich einander mittheilen — und — hete-
rogeniſch gebildet ſind!
Heterogeniſch? was iſt das? Schnurgerade — und zirkelrunde Linien! gewaltig
vordringende — und tief eingedruͤckte Profile! ..
Warum konnte Karl der XII. die Frauensperſonen nicht leiden? warum bewunderten
ſeine Feinde ſeine Tapferkeit? war’s nicht aufm breiten Bogen, der ſich von ſeiner Naſenwurzel
heraushob; nicht auf ſeiner Heere beherbergenden Stirne — wo dieſe hohe Mannheit ſaß, die
Weiber wegſchreckte, und Maͤnnern Achtung einfloͤßte? —
Freylich ſind die Menſchen ſo gebaut, daß kaum Einer iſt, der nicht wenigſtens einen
faͤnde, mit dem er harmoniren kann — aber nicht jeder iſt fuͤr jeden ... Jeder hat ein beſonde-
res Auge zu ſehen — und erſcheint in einem beſondern Lichte, in welchem allein er geſehen werden
kann. Wenn nun mein Aug an einem Menſchen, (und wie ſchneller, leichter, natuͤrlicher, ſiche-
rer, als durch ſein Aeußerliches? ſein Sichtbares? ſeine Phyſiognomie?) ſolche Kraͤfte, Eigen-
ſchaften, Zeichen erblickt, die meinen Ahndungen und Beduͤrfniſſen zu entſprechen ſcheinen; wenn
ich in ſeiner Atmoſphaͤre frey athmen kann — oder, damit dieß nicht wieder myſtiſch oder ſchl ... ſch
verſtanden
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