Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 3. Leipzig u. a., 1777.III. Fragment. Er kann nichts hinein bringen -- nur herausbringen -- so wie überhaupt niemand nichts inden Menschen eigentlich hinein bringen kann. Nur herausbringen, nur entwickeln, was da ist. So wenig sich ein neues Glied in das Ganze des menschlichen Körpers hinein- pfropfen läßt -- so wenig eine neue Geisteskraft! Was da ist, ist da! Was da ist, ist der Bearbeitung, Entwickelung, Zeitigung, und eines erstaunlichen Wachsthums fähig -- aber was nicht da ist, kann weder entwickelt, noch reif, noch auch hineingebracht werden. Also ist Kennt- niß dessen, was da ist -- Fingerzeige der Erziehung und Bildung des Menschen -- Fingerzeige der Achtung und Freundschaft. Nun das Unsichtbare im Menschen zeigt sich in seinem Sichtbaren -- wie der Schöpfer in Aber giebt's keine Ausnahmen? Jch habe noch keine gesehen .. Das heißt: "Jch kenne, Es kann Gesichter geben, die, wie die Gottheit, ihre Liebe leuchten lassen über Gute und Kraft
III. Fragment. Er kann nichts hinein bringen — nur herausbringen — ſo wie uͤberhaupt niemand nichts inden Menſchen eigentlich hinein bringen kann. Nur herausbringen, nur entwickeln, was da iſt. So wenig ſich ein neues Glied in das Ganze des menſchlichen Koͤrpers hinein- pfropfen laͤßt — ſo wenig eine neue Geiſteskraft! Was da iſt, iſt da! Was da iſt, iſt der Bearbeitung, Entwickelung, Zeitigung, und eines erſtaunlichen Wachsthums faͤhig — aber was nicht da iſt, kann weder entwickelt, noch reif, noch auch hineingebracht werden. Alſo iſt Kennt- niß deſſen, was da iſt — Fingerzeige der Erziehung und Bildung des Menſchen — Fingerzeige der Achtung und Freundſchaft. Nun das Unſichtbare im Menſchen zeigt ſich in ſeinem Sichtbaren — wie der Schoͤpfer in Aber giebt’s keine Ausnahmen? Jch habe noch keine geſehen .. Das heißt: „Jch kenne, Es kann Geſichter geben, die, wie die Gottheit, ihre Liebe leuchten laſſen uͤber Gute und Kraft
<TEI> <text> <body> <div n="2"> <p><pb facs="#f0050" n="34"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b"><hi rendition="#g"><hi rendition="#aq">III.</hi> Fragment.</hi></hi></fw><lb/> Er kann nichts hinein bringen — nur herausbringen — ſo wie uͤberhaupt <hi rendition="#fr">niemand nichts in<lb/> den Menſchen eigentlich hinein bringen kann.</hi> Nur herausbringen, nur entwickeln, was da<lb/> iſt. <hi rendition="#fr">So wenig ſich ein neues Glied in das Ganze des menſchlichen Koͤrpers hinein-<lb/> pfropfen laͤßt — ſo wenig eine neue Geiſteskraft!</hi> Was da iſt, iſt da! Was da iſt, iſt der<lb/> Bearbeitung, Entwickelung, Zeitigung, und eines erſtaunlichen Wachsthums faͤhig — aber was<lb/> nicht da iſt, kann weder entwickelt, noch reif, noch auch hineingebracht werden. Alſo iſt Kennt-<lb/> niß deſſen, was da iſt — Fingerzeige der Erziehung und Bildung des Menſchen — Fingerzeige<lb/> der Achtung und Freundſchaft.</p><lb/> <p>Nun das Unſichtbare im Menſchen zeigt ſich in ſeinem Sichtbaren — wie der Schoͤpfer in<lb/> der Schoͤpfung! — Wenn alſo Phyſiognomie nicht Achtung und Freundſchaft zeugen kann, was<lb/> dann? Wenn das Anziehende und Zuruͤckſtoßende keine Zeichen hat — (wodurch ſonſt zuruͤckſtoßend<lb/> und anziehend?) — was hat’s dann?</p><lb/> <p>Aber giebt’s keine Ausnahmen? Jch habe noch keine geſehen .. Das heißt: „Jch kenne,<lb/> „itzt wenigſtens, keine Geſichter, denen ich meine Seele vertrauen moͤchte, von denen ich nicht ge-<lb/> „wiß bin: Meine Seele iſt bey Jhnen wohl vertraut.“ Wenn ich mich aber auch noch irrte,<lb/> was waͤre das? Bewieſe das? — — — Genug — wenn <hi rendition="#fr">uͤberall</hi> eine Phyſiognomie in der Natur<lb/> iſt; ſo muß der <hi rendition="#fr">Menſch</hi> eine haben — und wenn der <hi rendition="#fr">Menſch</hi> eine hat, ſo muß der der <hi rendition="#fr">Freund-<lb/> ſchaft,</hi> der <hi rendition="#fr">Achtung — wuͤrdige Menſch</hi> eine haben. Und wenn er eine hat, die ihn von dem<lb/> Achtungsunwuͤrdigen unterſcheidet, ſo muß dieſe <hi rendition="#fr">erkennbar</hi> ſeyn — und je <hi rendition="#fr">gekannter,</hi> deſto <hi rendition="#fr">lie-<lb/> benswuͤrdiger;</hi> je <hi rendition="#fr">liebenswuͤrdiger,</hi> deſto <hi rendition="#fr">geſuchter, geliebter.</hi></p><lb/> <p>Es kann Geſichter geben, die, wie die Gottheit, ihre Liebe leuchten laſſen uͤber Gute und<lb/> Boͤſe, und Thraͤnen der Freude und des Mitleids haben fuͤr Gerechte und Ungerechte — die alle<lb/> lieben, und von allen geliebt werden — Selten ſind ſie, aber unmoͤglich ſcheinen ſie nicht. Es<lb/> kann Geſichter geben, die nur wenigen verſtehbar und genießbar ſind; aber dieſen dann ganz; die-<lb/> ſen wenigen dann alles ſind. Geſichter — die allen Achtung und Ehrfurcht einfloͤßen — und keine<lb/> zutrauliche Liebe — Geſichter, die nur Liebe, und keine Hochachtung einfloͤßen; und ſolche, die<lb/> beydes genau vereinigen.</p><lb/> <fw place="bottom" type="catch"> <hi rendition="#fr">Kraft</hi> </fw><lb/> </div> </body> </text> </TEI> [34/0050]
III. Fragment.
Er kann nichts hinein bringen — nur herausbringen — ſo wie uͤberhaupt niemand nichts in
den Menſchen eigentlich hinein bringen kann. Nur herausbringen, nur entwickeln, was da
iſt. So wenig ſich ein neues Glied in das Ganze des menſchlichen Koͤrpers hinein-
pfropfen laͤßt — ſo wenig eine neue Geiſteskraft! Was da iſt, iſt da! Was da iſt, iſt der
Bearbeitung, Entwickelung, Zeitigung, und eines erſtaunlichen Wachsthums faͤhig — aber was
nicht da iſt, kann weder entwickelt, noch reif, noch auch hineingebracht werden. Alſo iſt Kennt-
niß deſſen, was da iſt — Fingerzeige der Erziehung und Bildung des Menſchen — Fingerzeige
der Achtung und Freundſchaft.
Nun das Unſichtbare im Menſchen zeigt ſich in ſeinem Sichtbaren — wie der Schoͤpfer in
der Schoͤpfung! — Wenn alſo Phyſiognomie nicht Achtung und Freundſchaft zeugen kann, was
dann? Wenn das Anziehende und Zuruͤckſtoßende keine Zeichen hat — (wodurch ſonſt zuruͤckſtoßend
und anziehend?) — was hat’s dann?
Aber giebt’s keine Ausnahmen? Jch habe noch keine geſehen .. Das heißt: „Jch kenne,
„itzt wenigſtens, keine Geſichter, denen ich meine Seele vertrauen moͤchte, von denen ich nicht ge-
„wiß bin: Meine Seele iſt bey Jhnen wohl vertraut.“ Wenn ich mich aber auch noch irrte,
was waͤre das? Bewieſe das? — — — Genug — wenn uͤberall eine Phyſiognomie in der Natur
iſt; ſo muß der Menſch eine haben — und wenn der Menſch eine hat, ſo muß der der Freund-
ſchaft, der Achtung — wuͤrdige Menſch eine haben. Und wenn er eine hat, die ihn von dem
Achtungsunwuͤrdigen unterſcheidet, ſo muß dieſe erkennbar ſeyn — und je gekannter, deſto lie-
benswuͤrdiger; je liebenswuͤrdiger, deſto geſuchter, geliebter.
Es kann Geſichter geben, die, wie die Gottheit, ihre Liebe leuchten laſſen uͤber Gute und
Boͤſe, und Thraͤnen der Freude und des Mitleids haben fuͤr Gerechte und Ungerechte — die alle
lieben, und von allen geliebt werden — Selten ſind ſie, aber unmoͤglich ſcheinen ſie nicht. Es
kann Geſichter geben, die nur wenigen verſtehbar und genießbar ſind; aber dieſen dann ganz; die-
ſen wenigen dann alles ſind. Geſichter — die allen Achtung und Ehrfurcht einfloͤßen — und keine
zutrauliche Liebe — Geſichter, die nur Liebe, und keine Hochachtung einfloͤßen; und ſolche, die
beydes genau vereinigen.
Kraft
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |