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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 3. Leipzig u. a., 1777.

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Frauenspersonen.
Achtzehntes Fragment.
Catharina die zweyte.

Catharina die II. mag die größte Frau in Europa seyn; -- das Bild, das wir vor uns haben,
ist nicht das Bild der größten Frau in Europa. -- Aber, es ist kenntlich! -- Kenntlich? Wir wis-
sen schon, wie unbestimmt dieß Wort ist -- und daß wir eigentlich ganz und gar keine vollkommen
ähnliche Porträte haben. --

Bild einer sehr großen Frau bleibt unser Bild immer. So rein, so proportionirt, so ein-
fach ist kein gemeines Weibsgesicht.

Wäre der Umriß der Stirne so scharf gezeichnet, wie im Schattenbild am Sonnenmikro-
skop; wäre sie, wie sie vermuthlich in der Natur ist -- Jch zweifle, ob es eine erhabnere Weibsstirn
unterm Monde gäbe? So aber, so groß sie noch ist, verliert sie viel vom non plus ultra, beson-
ders im Raume zwischen den Augenbraunen und dem Auge. Wäre die herrliche, stark sprechende
Augenbraune weiter fortgeführt, daß die äußerste Gränzlinie der Stirn unterbrochen schien -- die
Physiognomie würde schon durch diese geringe Veränderung -- mehr Verstand gewinnen. Das
Aug ist ganz vortrefflich, und nun noch vortrefflicher, und ich wollte wetten, um noch wahrer zu
seyn, dürfte die obere Augenlippe nur noch ein wenig über den Augapfel hinausgeführt seyn.

Die Entfernung des äußersten Umrisses der Nase vom Auge ist mitbestimmender Charak-
ter von Größe. Sonst ist die Nase, besonders untenher, nicht außerordentlich. Jch vermuthe aber,
daß sie unten am Knopfe in der Natur etwas beschnittener sey.

Wenn wir so glücklich wären, einen Schattenriß von dieser erhabnen Fürstinn vor uns zu
haben, so würden wir im Umrisse der Oberlippe gewisse drey Dinge bemerken, die im Bilde feh-
len, und dennoch einen ungemein viel tiefern Eindruck von Adel und Größe machen müßten.
Des III. Ban-
des XCII.
Tafel.
a) Der Raum von der Nase zum Munde würde etwas kürzer seyn. b) Die ganze
Oberlippe, die die Zähne bedeckt, würde entweder mehr vor oder mehr zurückstehen.
Einer der gewöhnlichsten Fehler beynah aller Mahler, das Perpendikularverhältniß zweener Punk-
te des Profils -- den äußersten und tiefsten Punkt der Nasenwurzel und den äußersten und tiefsten
der Oberlippe, oder der Zahnlippe nicht zu bemerken -- wovon doch die ganze Grundbestimmung

der
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Frauensperſonen.
Achtzehntes Fragment.
Catharina die zweyte.

Catharina die II. mag die groͤßte Frau in Europa ſeyn; — das Bild, das wir vor uns haben,
iſt nicht das Bild der groͤßten Frau in Europa. — Aber, es iſt kenntlich! — Kenntlich? Wir wiſ-
ſen ſchon, wie unbeſtimmt dieß Wort iſt — und daß wir eigentlich ganz und gar keine vollkommen
aͤhnliche Portraͤte haben. —

Bild einer ſehr großen Frau bleibt unſer Bild immer. So rein, ſo proportionirt, ſo ein-
fach iſt kein gemeines Weibsgeſicht.

Waͤre der Umriß der Stirne ſo ſcharf gezeichnet, wie im Schattenbild am Sonnenmikro-
ſkop; waͤre ſie, wie ſie vermuthlich in der Natur iſt — Jch zweifle, ob es eine erhabnere Weibsſtirn
unterm Monde gaͤbe? So aber, ſo groß ſie noch iſt, verliert ſie viel vom non plus ultra, beſon-
ders im Raume zwiſchen den Augenbraunen und dem Auge. Waͤre die herrliche, ſtark ſprechende
Augenbraune weiter fortgefuͤhrt, daß die aͤußerſte Graͤnzlinie der Stirn unterbrochen ſchien — die
Phyſiognomie wuͤrde ſchon durch dieſe geringe Veraͤnderung — mehr Verſtand gewinnen. Das
Aug iſt ganz vortrefflich, und nun noch vortrefflicher, und ich wollte wetten, um noch wahrer zu
ſeyn, duͤrfte die obere Augenlippe nur noch ein wenig uͤber den Augapfel hinausgefuͤhrt ſeyn.

Die Entfernung des aͤußerſten Umriſſes der Naſe vom Auge iſt mitbeſtimmender Charak-
ter von Groͤße. Sonſt iſt die Naſe, beſonders untenher, nicht außerordentlich. Jch vermuthe aber,
daß ſie unten am Knopfe in der Natur etwas beſchnittener ſey.

Wenn wir ſo gluͤcklich waͤren, einen Schattenriß von dieſer erhabnen Fuͤrſtinn vor uns zu
haben, ſo wuͤrden wir im Umriſſe der Oberlippe gewiſſe drey Dinge bemerken, die im Bilde feh-
len, und dennoch einen ungemein viel tiefern Eindruck von Adel und Groͤße machen muͤßten.
Des III. Ban-
des XCII.
Tafel.
a) Der Raum von der Naſe zum Munde wuͤrde etwas kuͤrzer ſeyn. b) Die ganze
Oberlippe, die die Zaͤhne bedeckt, wuͤrde entweder mehr vor oder mehr zuruͤckſtehen.
Einer der gewoͤhnlichſten Fehler beynah aller Mahler, das Perpendikularverhaͤltniß zweener Punk-
te des Profils — den aͤußerſten und tiefſten Punkt der Naſenwurzel und den aͤußerſten und tiefſten
der Oberlippe, oder der Zahnlippe nicht zu bemerken — wovon doch die ganze Grundbeſtimmung

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[323/0523] Frauensperſonen. Achtzehntes Fragment. Catharina die zweyte. Catharina die II. mag die groͤßte Frau in Europa ſeyn; — das Bild, das wir vor uns haben, iſt nicht das Bild der groͤßten Frau in Europa. — Aber, es iſt kenntlich! — Kenntlich? Wir wiſ- ſen ſchon, wie unbeſtimmt dieß Wort iſt — und daß wir eigentlich ganz und gar keine vollkommen aͤhnliche Portraͤte haben. — Bild einer ſehr großen Frau bleibt unſer Bild immer. So rein, ſo proportionirt, ſo ein- fach iſt kein gemeines Weibsgeſicht. Waͤre der Umriß der Stirne ſo ſcharf gezeichnet, wie im Schattenbild am Sonnenmikro- ſkop; waͤre ſie, wie ſie vermuthlich in der Natur iſt — Jch zweifle, ob es eine erhabnere Weibsſtirn unterm Monde gaͤbe? So aber, ſo groß ſie noch iſt, verliert ſie viel vom non plus ultra, beſon- ders im Raume zwiſchen den Augenbraunen und dem Auge. Waͤre die herrliche, ſtark ſprechende Augenbraune weiter fortgefuͤhrt, daß die aͤußerſte Graͤnzlinie der Stirn unterbrochen ſchien — die Phyſiognomie wuͤrde ſchon durch dieſe geringe Veraͤnderung — mehr Verſtand gewinnen. Das Aug iſt ganz vortrefflich, und nun noch vortrefflicher, und ich wollte wetten, um noch wahrer zu ſeyn, duͤrfte die obere Augenlippe nur noch ein wenig uͤber den Augapfel hinausgefuͤhrt ſeyn. Die Entfernung des aͤußerſten Umriſſes der Naſe vom Auge iſt mitbeſtimmender Charak- ter von Groͤße. Sonſt iſt die Naſe, beſonders untenher, nicht außerordentlich. Jch vermuthe aber, daß ſie unten am Knopfe in der Natur etwas beſchnittener ſey. Wenn wir ſo gluͤcklich waͤren, einen Schattenriß von dieſer erhabnen Fuͤrſtinn vor uns zu haben, ſo wuͤrden wir im Umriſſe der Oberlippe gewiſſe drey Dinge bemerken, die im Bilde feh- len, und dennoch einen ungemein viel tiefern Eindruck von Adel und Groͤße machen muͤßten. a) Der Raum von der Naſe zum Munde wuͤrde etwas kuͤrzer ſeyn. b) Die ganze Oberlippe, die die Zaͤhne bedeckt, wuͤrde entweder mehr vor oder mehr zuruͤckſtehen. Einer der gewoͤhnlichſten Fehler beynah aller Mahler, das Perpendikularverhaͤltniß zweener Punk- te des Profils — den aͤußerſten und tiefſten Punkt der Naſenwurzel und den aͤußerſten und tiefſten der Oberlippe, oder der Zahnlippe nicht zu bemerken — wovon doch die ganze Grundbeſtimmung der Des III. Ban- des XCII. Tafel. S s 2

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 3. Leipzig u. a., 1777, S. 323. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente03_1777/523>, abgerufen am 22.11.2024.