Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 3. Leipzig u. a., 1777.Ueber Jdeale der Alten; schöne Natur; Nachahmung. Das Kind des Franzosen lernt Französisch, des Deutschen deutsch. Jeder Schüler Es ließe sich durch die vollkommenste Jnduktion unwidersprechlich darthun: daß jeder Mah- Eine Wahrheit von so millionenfachen Beweisen -- darf sie ohne Unverschämtheit -- darf Schöne Werke der bildenden, oder der dichtenden Kunst sind also immer ganz zuverläßi- uns Phys. Fragm. III Versuch. F
Ueber Jdeale der Alten; ſchoͤne Natur; Nachahmung. Das Kind des Franzoſen lernt Franzoͤſiſch, des Deutſchen deutſch. Jeder Schuͤler Es ließe ſich durch die vollkommenſte Jnduktion unwiderſprechlich darthun: daß jeder Mah- Eine Wahrheit von ſo millionenfachen Beweiſen — darf ſie ohne Unverſchaͤmtheit — darf Schoͤne Werke der bildenden, oder der dichtenden Kunſt ſind alſo immer ganz zuverlaͤßi- uns Phyſ. Fragm. III Verſuch. F
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Ueber Jdeale der Alten; ſchoͤne Natur; Nachahmung.
Das Kind des Franzoſen lernt Franzoͤſiſch, des Deutſchen deutſch. Jeder Schuͤler
eines Mahlers ahmt gluͤcklicher oder ungluͤcklicher die Manier oder den Styl ſeines Meiſters nach.
Es ließe ſich durch die vollkommenſte Jnduktion unwiderſprechlich darthun: daß jeder Mah-
ler ſeinen oder — ſeine Meiſter — die um ihn lebende Natur ſeines Zeitalters, und ſich ſelbſt
kopiert hat. So jeder Bildhauer; ſo jeder Schriftſteller; ſo jeder Patriot. Die eigene Manier
eines Genies in der Kunſt, Wiſſenſchaft und Tugend iſt bloß, die durch ſeine beſondere Lage modi-
fizirte Nachahmung ſeines Helden.
Eine Wahrheit von ſo millionenfachen Beweiſen — darf ſie ohne Unverſchaͤmtheit — darf
ſie im Ernſte in Zweifel gezogen werden? — Jch glaub’ es nicht! Man nenne ſich nur die Namen
Raphael, Rubens, Rembrand, Vandyk — Oßian, Homer, Milton, Klopſtock —
man laſſe ſich ihre Werke nur durch den Kopf laufen — die herrlichſten Originale — und dennoch
nur Kopiſten — ihrer Meiſter, der Natur, und ihrer ſelbſt. Sie ſahen nur individuell die Natur,
durch das Medium der Werke ihrer Meiſter und Vorbilder — das machte ſie zu Originalen und
Genies. Der ungenialiſche Nachahmer — ahmt nur den Meiſter oder die Natur nach, ohne Theil-
nehmung, ohne Tinktur ſeiner Verſchwiſterung mit der nachgeahmten Sache; er zeichnet eigent-
lich nur durch. Nicht ſo, wer Original iſt, das Genie. Er ahmt zwar auch nach — aber er
zeichnet nicht durch — er ſetzt ſeine Nachahmungen nicht wie ein Flickwerk zuſammen. Er ſchmilzt
ſie durch einen Zuſatz ſeiner theilnehmenden Jndividualitaͤt zu einem homogenen Ganzen —
und dieß homogene Ganze iſt ſo neu, ſo von allen andern Zuſammenflickungen ſeines Zeitalters ver-
ſchieden, daß man’s neues Geſchoͤpf, Jdeal, Erfindung heißt. Nur ſo, wie der Chymiſt
Schoͤpfer der Metalle iſt — nur ſo der Mahler der Gemaͤhlde; — der Bildhauer ſeiner Bilder.
Schoͤne Werke der bildenden, oder der dichtenden Kunſt ſind alſo immer ganz zuverlaͤßi-
ges Siegel und Pfand — ſchoͤnerer Urbilder, ſchoͤnerer Natur — und eines Auges, das gebildet
war, von dieſen Schoͤnheiten affizirt und hingeriſſen zu werden. Was Aug’ ohne Licht iſt, was
Weib ohne Mann — iſt Genie ohne affizirende Sinnlichkeit außer ſich. Es wird von ſeinem Zeit-
alter eben ſo ſehr geſtimmt, als es hinwieder ſein Zeitalter weckt und ſtimmt. Es giebt nur umge-
ſchmolzen, zuſammengeſchmolzen ſeinem Zeitalter zuruͤck, was es an einfachen Jngredienzen er-
hielt. — Welcher ſeichte Kopf — oder welcher Philoſoph von Profeſſion und Praͤtenſion — wird
uns
Phyſ. Fragm. III Verſuch. F
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