Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 3. Leipzig u. a., 1777.Ueber Jdeale der Alten; schöne Natur; Nachahmung. uns zu einer Empfindung zusammentreffenden sinnlichen Wahrnehmungen dessen, was außeruns ist. Es ist so fern, daß die Kunst, ohne und außer der Natur, idealisiren könne -- daß ich keck Jch schließe von allem dem, was ich um mich sehe -- auf das, was jene um sich gesehen halten- F 2
Ueber Jdeale der Alten; ſchoͤne Natur; Nachahmung. uns zu einer Empfindung zuſammentreffenden ſinnlichen Wahrnehmungen deſſen, was außeruns iſt. Es iſt ſo fern, daß die Kunſt, ohne und außer der Natur, idealiſiren koͤnne — daß ich keck Jch ſchließe von allem dem, was ich um mich ſehe — auf das, was jene um ſich geſehen halten- F 2
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Ueber Jdeale der Alten; ſchoͤne Natur; Nachahmung.
uns zu einer Empfindung zuſammentreffenden ſinnlichen Wahrnehmungen deſſen, was außer
uns iſt.
Es iſt ſo fern, daß die Kunſt, ohne und außer der Natur, idealiſiren koͤnne — daß ich keck
behaupte — „ſie kann’s nicht einmal bey und vor der Natur!“ — Furchtbares Paradox! Mahler,
Bildhauer und Dichter — werdet ihr nicht uͤber mich herfallen? — Dennoch iſt’s durchaus nicht
Begierde, etwas ſonderbares zu ſagen — wie uns alle, die nichts ſonderbares zu ſagen wiſſen, und
alles vorgeſprochne nur nachſprechen, vorgeſchriebne ehrerbietig und ſklaviſch nachſchreiben, un-
aufhoͤrlich nach aller Jahrhunderte Schulmode, vorwerfen; ſondern es iſt lebendige Ueberzeugung
bey mir; nicht nur Ueberzeugung, ſondern Wahrheit — Es iſt bloße Convention, daß wir irgend
ein noch ſo idealiſches Gemaͤhlde — uͤbernatuͤrlich ſchoͤn nennen. Ewig unternatuͤrlich iſt und
bleibt alle Kunſt. Das, was wir Jdeale nennen an den Alten — mag uns Jdeal ſcheinen. Jh-
nen — war’s vermuthlich unbefriedigendes Natur-Nachhinken der Kunſt! —
Jch ſchließe von allem dem, was ich um mich ſehe — auf das, was jene um ſich geſehen
haben muͤſſen — von der Natur meiner Zeit auf die Natur meiner Vorzeit. Beſſer, oder ſchlech-
ter; das thut hier nichts! Natur des Menſchen bleibt, wie die Hauptform des Menſchen,
immer Ein und eben dieſelbe — und was ſeh’ ich dann um mich herum? — daß kein einziger
Mahler, kein Bildhauer, kein Dichter — die Natur erreicht, geſchweige verſchoͤnert. Schoͤner,
als der und dieſer und jener — ſchoͤner, als man’s gewohnt iſt — zu ſehen, zu hoͤren, zu leſen —
das iſt moͤglich; — drum ſpricht man ſo viel von Jdeal! — aber nicht ſchoͤner, und nicht ſo ſchoͤn
als die Natur — die vorhandene ſchoͤne Natur naͤmlich — O daher, meine Lieben, koͤmmt der
ſchreckliche Fehlſprung — Man ſchloß: „weil ſich ſchlechte Natur verſchoͤnern laͤßt; alſo auch die
„ſchoͤne!“ — O da oder dort eine Warze weglaſſen; einen ſtarken Zug ziehen; einen ſcharfen Ein-
ſchnitt abſtuͤmpfen; eine weit vorhaͤngende Naſe abkuͤrzen — das koͤnnt ihr Mahler und Bildhauer,
ich weiß es — und wollte Gott, ihr thaͤtet’s nur nicht ſo oft ohne Sinn und Zweck, nach bloßen
Moderegeln, die mir ſchon ſo manches Geſicht, das mir, trutz aller Eurer faktiçen Kunſtregeln,
mit ſeinen keckern Zuͤgen, ſchaͤrfern Einſchnitten, und all dem Unweſen, dem ihr ſo menſchenfreund-
lich, wie ihr meynt, zu ſteuren ſucht — viel anziehender und hoͤherſprechend war, als Euer feinpo-
lirtes Nachbild mit alle ſeiner Jdealſchminke — — Doch geſetzt, ihr thut’s mit Weisheit und
Geiſt — thut’s im Geiſte der Phyſiognomie, die vor Euch ſitzt, welches viel ſagen will, tiefes an-
halten-
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