Raphael ... ist und bleibt in meinem Sinne "ein apostolischer" Mann; das heißt -- das in Vergleichung mit den übrigen Mahlern -- was die Apostel in Vergleichung mit den übrigen Menschen waren, und seine Bildung war eben so sehr über gemeine Menschenbildung erhaben, als seine Werke über die Werke gemeiner Mahler -- Das zeigen so gar die schlechtesten Porträte von ihm -- und die besten Porträte eines solchen Mannes können unmöglich idealisch seyn, können das Urbild in Stirn, und Aug und Mund nicht erreichen.
Noch einmal -- aber ich weiß es; es ist umsonst gesagt! weil es gegen ein tausendjähriges Vorurtheil gesagt ist -- Noch einmal: "die schöne Natur ist unerreichbar!" -- Unter hundert und tausend Porträten von großen Männern werdet ihr nicht Eines finden, wo das, was den Hauptcharakter der Größe ausmacht, erreicht, geschweige übertroffen wäre. Nur allemal Bild und Urbild neben einander; nur das Urbild genau in dasselbe Licht gestellt! nur das trefflichste Moment der Physiognomie abgewartet! -- nur alle Nebenverzierungen und die Frischfarbigkeit, und die täuschende, sogenannte mahlerische Stellung weggerechnet! .. Nur Stirn mit Stirne, Aug mit Auge, Mund mit Munde -- Harmonie mit Harmonie des Ganzen verglichen -- -- und ihr werdet das gepriesenste Jdeal -- unter der Natur finden! Versteht mich -- ich spreche von großen Gesichtern; und ich spreche von dem Hauptcharakter in großen Gesichtern. Es ist offen- bar, daß z. E. Vandyk alle seine Haare idealisirte ... daher dann das Gewäsche von seinen idealischen Porträten. Noch mehr wahr ist's -- daß er alle seine Porträte, durch eine Tinktur sei- ner selbst, salbte -- und wenn ihr wollt, veredelte -- daher die Täuschung der Jdealisirung! -- So kann Klopstock seine Apostel in gewissem Sinne idealisirt -- und dennoch auf tausend Schritte nicht erreicht haben! So heißt man die Porträte von Vandyk, Rubens, Raphael idealisirt -- Ja und nein! Allenfalls im Schwunge und Falle der Haarlocken; im Wurfe des Gewands -- im kühnen Lichte, in der hohen Färbung; in der Verfeinerung einiger scharfen Nebenzüge -- -- Siehe da die Täuschung! Aber auch im Blicke? auch in der so allvernachläßigten Gegend zwischen den Augenbraunen -- auch in den Endumrissen? auch im Munde? .. O ein Gesicht, das aus der
Fülle
VI. Fragment.
Sechstes Fragment. Ueber Raphael.
Raphael ... iſt und bleibt in meinem Sinne „ein apoſtoliſcher“ Mann; das heißt — das in Vergleichung mit den uͤbrigen Mahlern — was die Apoſtel in Vergleichung mit den uͤbrigen Menſchen waren, und ſeine Bildung war eben ſo ſehr uͤber gemeine Menſchenbildung erhaben, als ſeine Werke uͤber die Werke gemeiner Mahler — Das zeigen ſo gar die ſchlechteſten Portraͤte von ihm — und die beſten Portraͤte eines ſolchen Mannes koͤnnen unmoͤglich idealiſch ſeyn, koͤnnen das Urbild in Stirn, und Aug und Mund nicht erreichen.
Noch einmal — aber ich weiß es; es iſt umſonſt geſagt! weil es gegen ein tauſendjaͤhriges Vorurtheil geſagt iſt — Noch einmal: „die ſchoͤne Natur iſt unerreichbar!“ — Unter hundert und tauſend Portraͤten von großen Maͤnnern werdet ihr nicht Eines finden, wo das, was den Hauptcharakter der Groͤße ausmacht, erreicht, geſchweige uͤbertroffen waͤre. Nur allemal Bild und Urbild neben einander; nur das Urbild genau in daſſelbe Licht geſtellt! nur das trefflichſte Moment der Phyſiognomie abgewartet! — nur alle Nebenverzierungen und die Friſchfarbigkeit, und die taͤuſchende, ſogenannte mahleriſche Stellung weggerechnet! .. Nur Stirn mit Stirne, Aug mit Auge, Mund mit Munde — Harmonie mit Harmonie des Ganzen verglichen — — und ihr werdet das geprieſenſte Jdeal — unter der Natur finden! Verſteht mich — ich ſpreche von großen Geſichtern; und ich ſpreche von dem Hauptcharakter in großen Geſichtern. Es iſt offen- bar, daß z. E. Vandyk alle ſeine Haare idealiſirte ... daher dann das Gewaͤſche von ſeinen idealiſchen Portraͤten. Noch mehr wahr iſt’s — daß er alle ſeine Portraͤte, durch eine Tinktur ſei- ner ſelbſt, ſalbte — und wenn ihr wollt, veredelte — daher die Taͤuſchung der Jdealiſirung! — So kann Klopſtock ſeine Apoſtel in gewiſſem Sinne idealiſirt — und dennoch auf tauſend Schritte nicht erreicht haben! So heißt man die Portraͤte von Vandyk, Rubens, Raphael idealiſirt — Ja und nein! Allenfalls im Schwunge und Falle der Haarlocken; im Wurfe des Gewands — im kuͤhnen Lichte, in der hohen Faͤrbung; in der Verfeinerung einiger ſcharfen Nebenzuͤge — — Siehe da die Taͤuſchung! Aber auch im Blicke? auch in der ſo allvernachlaͤßigten Gegend zwiſchen den Augenbraunen — auch in den Endumriſſen? auch im Munde? .. O ein Geſicht, das aus der
Fuͤlle
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VI. Fragment.
Sechstes Fragment.
Ueber Raphael.
Raphael ... iſt und bleibt in meinem Sinne „ein apoſtoliſcher“ Mann; das heißt — das
in Vergleichung mit den uͤbrigen Mahlern — was die Apoſtel in Vergleichung mit den uͤbrigen
Menſchen waren, und ſeine Bildung war eben ſo ſehr uͤber gemeine Menſchenbildung erhaben, als
ſeine Werke uͤber die Werke gemeiner Mahler — Das zeigen ſo gar die ſchlechteſten Portraͤte von
ihm — und die beſten Portraͤte eines ſolchen Mannes koͤnnen unmoͤglich idealiſch ſeyn, koͤnnen das
Urbild in Stirn, und Aug und Mund nicht erreichen.
Noch einmal — aber ich weiß es; es iſt umſonſt geſagt! weil es gegen ein tauſendjaͤhriges
Vorurtheil geſagt iſt — Noch einmal: „die ſchoͤne Natur iſt unerreichbar!“ — Unter hundert
und tauſend Portraͤten von großen Maͤnnern werdet ihr nicht Eines finden, wo das, was den
Hauptcharakter der Groͤße ausmacht, erreicht, geſchweige uͤbertroffen waͤre. Nur allemal Bild
und Urbild neben einander; nur das Urbild genau in daſſelbe Licht geſtellt! nur das trefflichſte
Moment der Phyſiognomie abgewartet! — nur alle Nebenverzierungen und die Friſchfarbigkeit,
und die taͤuſchende, ſogenannte mahleriſche Stellung weggerechnet! .. Nur Stirn mit Stirne,
Aug mit Auge, Mund mit Munde — Harmonie mit Harmonie des Ganzen verglichen — — und
ihr werdet das geprieſenſte Jdeal — unter der Natur finden! Verſteht mich — ich ſpreche von
großen Geſichtern; und ich ſpreche von dem Hauptcharakter in großen Geſichtern. Es iſt offen-
bar, daß z. E. Vandyk alle ſeine Haare idealiſirte ... daher dann das Gewaͤſche von ſeinen
idealiſchen Portraͤten. Noch mehr wahr iſt’s — daß er alle ſeine Portraͤte, durch eine Tinktur ſei-
ner ſelbſt, ſalbte — und wenn ihr wollt, veredelte — daher die Taͤuſchung der Jdealiſirung! —
So kann Klopſtock ſeine Apoſtel in gewiſſem Sinne idealiſirt — und dennoch auf tauſend Schritte
nicht erreicht haben! So heißt man die Portraͤte von Vandyk, Rubens, Raphael idealiſirt —
Ja und nein! Allenfalls im Schwunge und Falle der Haarlocken; im Wurfe des Gewands —
im kuͤhnen Lichte, in der hohen Faͤrbung; in der Verfeinerung einiger ſcharfen Nebenzuͤge — —
Siehe da die Taͤuſchung! Aber auch im Blicke? auch in der ſo allvernachlaͤßigten Gegend zwiſchen
den Augenbraunen — auch in den Endumriſſen? auch im Munde? .. O ein Geſicht, das aus der
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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 3. Leipzig u. a., 1777, S. 58. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente03_1777/84>, abgerufen am 24.11.2024.
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