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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 3. Leipzig u. a., 1777.

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Ueber Raphael.
Fülle seiner Salbung, jedes schlechte gemeine Gesicht so tingiren kann, daß es Jdeal scheint ...
So ein Gesicht sollte mit Farbe, oder Bleystift, oder Grabstichel erreicht werden können? Dein Ge-
sicht, Raphael! deines? erreicht werden können?

Warum läßt Mengs sich nicht in Kupfer stechen? selber unter seiner Aufsicht nicht? war-
um läßt er keine Copie von seinem Gesichte nehmen? -- O er weiß gar zu gut -- daß alles Carri-
katur oder Paßquill werden würde.

Jedes große Gesicht, das zugleich physiognomisches Gefühl hat, giebt den größten Beweis
von Demuth, wenn es sich, und sollt' es auch von dem geschicktesten Meister geschehen, nachbil-
den läßt.

Setzt mir die Namen aller Männer her, die ihr Genies, Helden, groß nennt, aus den
Pallästen und Strohhütten -- und laßt ihre Porträte zeichnen -- oder mahlen -- daß sie vollkom-
men kenntlich heißen -- und daß der eigentliche Charakter ihrer Größe -- erreicht sey -- und ich
will verloren haben.

Also, um auf Raphael zurück zu kommen -- sein Gesicht muß gewiß noch ungleich erhabe-
ner gewesen seyn, als alle Porträte von ihm, so viele wir auch von ihm haben, die alle einen ganz aus-
serordentlichen Mann voll Einfachheit und Erhabenheit zeigen.

Hier ist noch ein Bild von ihm, nach einer der besten Handzeichnungen, die man von ihm
hat, und die vermuthlich von ihm selber herrühret -- und es hat gar nicht das Ansehen, daß es idea-
lisirt sey -- Gewiß hätte ihm jeder Mahler unsers Jahrhunderts einen beträchtlichen Zusatz von
Pracht und Moderey zu geben, für Pflicht gehalten.

Dieß Bild -- wie kann ich's ansehen, ansehen -- wer kann's -- ohne den Schöpfer der
schönsten Gestalten, das ist, den ganz umfassenden Erblicker, den fühlenden Darsteller des schönsten,
was die Natur hat, mit Ueberfliegung alles gemeinen und schlechten -- drinn zu bemerken, oder doch
zu fühlen? Wie einfach und harmonisch das Ganze! Jst's möglich -- in diesem Gesichte den
einfachen hohen Charakter aller seiner Arbeiten -- nicht zu sehen? Wie gar nichts gegen einander
wirrendes! wie gar nichts beladenes! verschobenes! verzerrtes! nichts scharfes, beinigtes, gewalt-
sames! -- alles so einfach, so vollfühlend! so Lustempfänglich! so verliebt verschlingend! ohne Furcht
und ohne Stolz -- trunken im Sehen und Fühlen -- Das Erhabene dieses Gesichtes liegt in der

höchsten
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Ueber Raphael.
Fuͤlle ſeiner Salbung, jedes ſchlechte gemeine Geſicht ſo tingiren kann, daß es Jdeal ſcheint ...
So ein Geſicht ſollte mit Farbe, oder Bleyſtift, oder Grabſtichel erreicht werden koͤnnen? Dein Ge-
ſicht, Raphael! deines? erreicht werden koͤnnen?

Warum laͤßt Mengs ſich nicht in Kupfer ſtechen? ſelber unter ſeiner Aufſicht nicht? war-
um laͤßt er keine Copie von ſeinem Geſichte nehmen? — O er weiß gar zu gut — daß alles Carri-
katur oder Paßquill werden wuͤrde.

Jedes große Geſicht, das zugleich phyſiognomiſches Gefuͤhl hat, giebt den groͤßten Beweis
von Demuth, wenn es ſich, und ſollt’ es auch von dem geſchickteſten Meiſter geſchehen, nachbil-
den laͤßt.

Setzt mir die Namen aller Maͤnner her, die ihr Genies, Helden, groß nennt, aus den
Pallaͤſten und Strohhuͤtten — und laßt ihre Portraͤte zeichnen — oder mahlen — daß ſie vollkom-
men kenntlich heißen — und daß der eigentliche Charakter ihrer Groͤße — erreicht ſey — und ich
will verloren haben.

Alſo, um auf Raphael zuruͤck zu kommen — ſein Geſicht muß gewiß noch ungleich erhabe-
ner geweſen ſeyn, als alle Portraͤte von ihm, ſo viele wir auch von ihm haben, die alle einen ganz auſ-
ſerordentlichen Mann voll Einfachheit und Erhabenheit zeigen.

Hier iſt noch ein Bild von ihm, nach einer der beſten Handzeichnungen, die man von ihm
hat, und die vermuthlich von ihm ſelber herruͤhret — und es hat gar nicht das Anſehen, daß es idea-
liſirt ſey — Gewiß haͤtte ihm jeder Mahler unſers Jahrhunderts einen betraͤchtlichen Zuſatz von
Pracht und Moderey zu geben, fuͤr Pflicht gehalten.

Dieß Bild — wie kann ich’s anſehen, anſehen — wer kann’s — ohne den Schoͤpfer der
ſchoͤnſten Geſtalten, das iſt, den ganz umfaſſenden Erblicker, den fuͤhlenden Darſteller des ſchoͤnſten,
was die Natur hat, mit Ueberfliegung alles gemeinen und ſchlechten — drinn zu bemerken, oder doch
zu fuͤhlen? Wie einfach und harmoniſch das Ganze! Jſt’s moͤglich — in dieſem Geſichte den
einfachen hohen Charakter aller ſeiner Arbeiten — nicht zu ſehen? Wie gar nichts gegen einander
wirrendes! wie gar nichts beladenes! verſchobenes! verzerrtes! nichts ſcharfes, beinigtes, gewalt-
ſames! — alles ſo einfach, ſo vollfuͤhlend! ſo Luſtempfaͤnglich! ſo verliebt verſchlingend! ohne Furcht
und ohne Stolz — trunken im Sehen und Fuͤhlen — Das Erhabene dieſes Geſichtes liegt in der

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[59/0085] Ueber Raphael. Fuͤlle ſeiner Salbung, jedes ſchlechte gemeine Geſicht ſo tingiren kann, daß es Jdeal ſcheint ... So ein Geſicht ſollte mit Farbe, oder Bleyſtift, oder Grabſtichel erreicht werden koͤnnen? Dein Ge- ſicht, Raphael! deines? erreicht werden koͤnnen? Warum laͤßt Mengs ſich nicht in Kupfer ſtechen? ſelber unter ſeiner Aufſicht nicht? war- um laͤßt er keine Copie von ſeinem Geſichte nehmen? — O er weiß gar zu gut — daß alles Carri- katur oder Paßquill werden wuͤrde. Jedes große Geſicht, das zugleich phyſiognomiſches Gefuͤhl hat, giebt den groͤßten Beweis von Demuth, wenn es ſich, und ſollt’ es auch von dem geſchickteſten Meiſter geſchehen, nachbil- den laͤßt. Setzt mir die Namen aller Maͤnner her, die ihr Genies, Helden, groß nennt, aus den Pallaͤſten und Strohhuͤtten — und laßt ihre Portraͤte zeichnen — oder mahlen — daß ſie vollkom- men kenntlich heißen — und daß der eigentliche Charakter ihrer Groͤße — erreicht ſey — und ich will verloren haben. Alſo, um auf Raphael zuruͤck zu kommen — ſein Geſicht muß gewiß noch ungleich erhabe- ner geweſen ſeyn, als alle Portraͤte von ihm, ſo viele wir auch von ihm haben, die alle einen ganz auſ- ſerordentlichen Mann voll Einfachheit und Erhabenheit zeigen. Hier iſt noch ein Bild von ihm, nach einer der beſten Handzeichnungen, die man von ihm hat, und die vermuthlich von ihm ſelber herruͤhret — und es hat gar nicht das Anſehen, daß es idea- liſirt ſey — Gewiß haͤtte ihm jeder Mahler unſers Jahrhunderts einen betraͤchtlichen Zuſatz von Pracht und Moderey zu geben, fuͤr Pflicht gehalten. Dieß Bild — wie kann ich’s anſehen, anſehen — wer kann’s — ohne den Schoͤpfer der ſchoͤnſten Geſtalten, das iſt, den ganz umfaſſenden Erblicker, den fuͤhlenden Darſteller des ſchoͤnſten, was die Natur hat, mit Ueberfliegung alles gemeinen und ſchlechten — drinn zu bemerken, oder doch zu fuͤhlen? Wie einfach und harmoniſch das Ganze! Jſt’s moͤglich — in dieſem Geſichte den einfachen hohen Charakter aller ſeiner Arbeiten — nicht zu ſehen? Wie gar nichts gegen einander wirrendes! wie gar nichts beladenes! verſchobenes! verzerrtes! nichts ſcharfes, beinigtes, gewalt- ſames! — alles ſo einfach, ſo vollfuͤhlend! ſo Luſtempfaͤnglich! ſo verliebt verſchlingend! ohne Furcht und ohne Stolz — trunken im Sehen und Fuͤhlen — Das Erhabene dieſes Geſichtes liegt in der hoͤchſten H 2

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 3. Leipzig u. a., 1777, S. 59. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente03_1777/85>, abgerufen am 21.11.2024.