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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778.

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II. Abschnitt. III. Fragment.

Je mehr Ahndung, vorlaufendes, richtiges Gefühl -- von dem Charakter des Menschen
einer hat, desto größer das physiognomische Genie. Richtiges Gefühl heiß ich Gefühl, das die Er-
fahrung nachher bestätigt, und wovon hernach die Vernunft die Zeichen, die Bestandtheile, die
Jngredienzien allenfalls finden kann. Jch brauche immer das Wort Ahndung -- und weiß zur
Zeit noch kein besseres. Ahndung, Vorempfindung, Sinn für etwas gegenwärtiges, aber an sich
selbst unsichtbares; Sinn für den Geist der Sache.

Nicht, daß der ächte Physiognomist die ruhig anatomirende Beobachtung vernachlässige --
bey Leibe nicht! Aber das physiognomische Genie -- wird seine ersten unräsonnirten Schnellge-
fühle
fest zu halten, und ja nicht diese zu rektifiziren, sondern zu bestimmen, zu zergliedern, und
in bestimmte Zeichen aufzulösen suchen, um so seinen Sinn nicht zu verderben, sondern zu vervoll-
kommnen. Das physiognomische Genie ahndet nicht nur, was da ist, sondern, was nicht da ist,
da seyn könnte; und auch das, was nicht da seyn kann; was der Mensch werden kann und wird,
und nicht kann, und nicht wird; was der Mensch in jeder Lage, jeden Umständen thun und nicht
thun, sprechen und nicht sprechen wird. Er ahndet jeden faktizen, heterogenen Zug in jedem Ge-
sichte, jeder Miene; und in jedem dieser Züge künftige Thaten, zu deren Wirklichkeit nichts als
Veranlassung fehlt. Daher sich auch eine weißagende Physiognomik denken läßt. Das heißt:
das physiognomische Genie sieht solche Schicksale vorher, die sich aus dem Charakter des Men-
schen
ergeben. Wenn es bisweilen sagt: diesem Menschen steht der Galgen auf der Stirne,
so sagt es damit nichts mehr und nichts weniger, als: Jch sehe Leidenschaften, Plane, Trug-
sinn in diesem Gesichte, die zu Thaten führen können -- welche des Todes werth sind.
--
Es denkt sich nicht deutlich, imaginirt sich nicht klar diese oder jene besondere That -- Es sagt auf
den ersten Blick von gewissen Menschen -- "auf den Thron -- oder, zum Galgen." -- Oft ge-
schieht's; oft geschieht's nicht; und seine Ahndung kann dennoch richtig seyn. Der Mensch kann die-
ses oder jenes -- wirklich verdient haben.

Das Genie ahndet; das heißt: Sein Gefühl läuft der Beobachtung vor. Das Ge-
nie
als Genie beobachtet nicht. Es sieht. Es fühlt. Man hebe diesen Gedanken nicht sogleich
aus, um ihn zu spießen. Man verstehe mich recht. Beobachtung bewahrheitet, popularisirt, was
das Genie nicht beobachten wollte; sondern sah. Das Genie wird sein Sehen durch Beobach-

tungen
II. Abſchnitt. III. Fragment.

Je mehr Ahndung, vorlaufendes, richtiges Gefuͤhl — von dem Charakter des Menſchen
einer hat, deſto groͤßer das phyſiognomiſche Genie. Richtiges Gefuͤhl heiß ich Gefuͤhl, das die Er-
fahrung nachher beſtaͤtigt, und wovon hernach die Vernunft die Zeichen, die Beſtandtheile, die
Jngredienzien allenfalls finden kann. Jch brauche immer das Wort Ahndung — und weiß zur
Zeit noch kein beſſeres. Ahndung, Vorempfindung, Sinn fuͤr etwas gegenwaͤrtiges, aber an ſich
ſelbſt unſichtbares; Sinn fuͤr den Geiſt der Sache.

Nicht, daß der aͤchte Phyſiognomiſt die ruhig anatomirende Beobachtung vernachlaͤſſige —
bey Leibe nicht! Aber das phyſiognomiſche Genie — wird ſeine erſten unraͤſonnirten Schnellge-
fuͤhle
feſt zu halten, und ja nicht dieſe zu rektifiziren, ſondern zu beſtimmen, zu zergliedern, und
in beſtimmte Zeichen aufzuloͤſen ſuchen, um ſo ſeinen Sinn nicht zu verderben, ſondern zu vervoll-
kommnen. Das phyſiognomiſche Genie ahndet nicht nur, was da iſt, ſondern, was nicht da iſt,
da ſeyn koͤnnte; und auch das, was nicht da ſeyn kann; was der Menſch werden kann und wird,
und nicht kann, und nicht wird; was der Menſch in jeder Lage, jeden Umſtaͤnden thun und nicht
thun, ſprechen und nicht ſprechen wird. Er ahndet jeden faktizen, heterogenen Zug in jedem Ge-
ſichte, jeder Miene; und in jedem dieſer Zuͤge kuͤnftige Thaten, zu deren Wirklichkeit nichts als
Veranlaſſung fehlt. Daher ſich auch eine weißagende Phyſiognomik denken laͤßt. Das heißt:
das phyſiognomiſche Genie ſieht ſolche Schickſale vorher, die ſich aus dem Charakter des Men-
ſchen
ergeben. Wenn es bisweilen ſagt: dieſem Menſchen ſteht der Galgen auf der Stirne,
ſo ſagt es damit nichts mehr und nichts weniger, als: Jch ſehe Leidenſchaften, Plane, Trug-
ſinn in dieſem Geſichte, die zu Thaten fuͤhren koͤnnen — welche des Todes werth ſind.

Es denkt ſich nicht deutlich, imaginirt ſich nicht klar dieſe oder jene beſondere That — Es ſagt auf
den erſten Blick von gewiſſen Menſchen — „auf den Thron — oder, zum Galgen.“ — Oft ge-
ſchieht’s; oft geſchieht’s nicht; und ſeine Ahndung kann dennoch richtig ſeyn. Der Menſch kann die-
ſes oder jenes — wirklich verdient haben.

Das Genie ahndet; das heißt: Sein Gefuͤhl laͤuft der Beobachtung vor. Das Ge-
nie
als Genie beobachtet nicht. Es ſieht. Es fuͤhlt. Man hebe dieſen Gedanken nicht ſogleich
aus, um ihn zu ſpießen. Man verſtehe mich recht. Beobachtung bewahrheitet, populariſirt, was
das Genie nicht beobachten wollte; ſondern ſah. Das Genie wird ſein Sehen durch Beobach-

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[132/0162] II. Abſchnitt. III. Fragment. Je mehr Ahndung, vorlaufendes, richtiges Gefuͤhl — von dem Charakter des Menſchen einer hat, deſto groͤßer das phyſiognomiſche Genie. Richtiges Gefuͤhl heiß ich Gefuͤhl, das die Er- fahrung nachher beſtaͤtigt, und wovon hernach die Vernunft die Zeichen, die Beſtandtheile, die Jngredienzien allenfalls finden kann. Jch brauche immer das Wort Ahndung — und weiß zur Zeit noch kein beſſeres. Ahndung, Vorempfindung, Sinn fuͤr etwas gegenwaͤrtiges, aber an ſich ſelbſt unſichtbares; Sinn fuͤr den Geiſt der Sache. Nicht, daß der aͤchte Phyſiognomiſt die ruhig anatomirende Beobachtung vernachlaͤſſige — bey Leibe nicht! Aber das phyſiognomiſche Genie — wird ſeine erſten unraͤſonnirten Schnellge- fuͤhle feſt zu halten, und ja nicht dieſe zu rektifiziren, ſondern zu beſtimmen, zu zergliedern, und in beſtimmte Zeichen aufzuloͤſen ſuchen, um ſo ſeinen Sinn nicht zu verderben, ſondern zu vervoll- kommnen. Das phyſiognomiſche Genie ahndet nicht nur, was da iſt, ſondern, was nicht da iſt, da ſeyn koͤnnte; und auch das, was nicht da ſeyn kann; was der Menſch werden kann und wird, und nicht kann, und nicht wird; was der Menſch in jeder Lage, jeden Umſtaͤnden thun und nicht thun, ſprechen und nicht ſprechen wird. Er ahndet jeden faktizen, heterogenen Zug in jedem Ge- ſichte, jeder Miene; und in jedem dieſer Zuͤge kuͤnftige Thaten, zu deren Wirklichkeit nichts als Veranlaſſung fehlt. Daher ſich auch eine weißagende Phyſiognomik denken laͤßt. Das heißt: das phyſiognomiſche Genie ſieht ſolche Schickſale vorher, die ſich aus dem Charakter des Men- ſchen ergeben. Wenn es bisweilen ſagt: dieſem Menſchen ſteht der Galgen auf der Stirne, ſo ſagt es damit nichts mehr und nichts weniger, als: Jch ſehe Leidenſchaften, Plane, Trug- ſinn in dieſem Geſichte, die zu Thaten fuͤhren koͤnnen — welche des Todes werth ſind. — Es denkt ſich nicht deutlich, imaginirt ſich nicht klar dieſe oder jene beſondere That — Es ſagt auf den erſten Blick von gewiſſen Menſchen — „auf den Thron — oder, zum Galgen.“ — Oft ge- ſchieht’s; oft geſchieht’s nicht; und ſeine Ahndung kann dennoch richtig ſeyn. Der Menſch kann die- ſes oder jenes — wirklich verdient haben. Das Genie ahndet; das heißt: Sein Gefuͤhl laͤuft der Beobachtung vor. Das Ge- nie als Genie beobachtet nicht. Es ſieht. Es fuͤhlt. Man hebe dieſen Gedanken nicht ſogleich aus, um ihn zu ſpießen. Man verſtehe mich recht. Beobachtung bewahrheitet, populariſirt, was das Genie nicht beobachten wollte; ſondern ſah. Das Genie wird ſein Sehen durch Beobach- tungen

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778, S. 132. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778/162>, abgerufen am 21.11.2024.