Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778.

Bild:
<< vorherige Seite

Physiognomischer Sinn, Genie, Ahndung.
tungen mittheilbar machen. Aber -- als Genie wird es nur sehen, fühlen, ahnden. Beob-
achten
kann man lernen und lehren jeden, der sehen kann. Aber nicht jeden, der Augen hat, se-
hen lehren -- geschweige den, der keine hat.

Jch kenne physiognomische Genieen, die nicht die mindeste Beobachtungsgabe besitzen, die
nichts vergleichen, nichts ruhig auf alle Seiten wenden, nicht die Charaktere der Dinge ausfinden
und herausheben können. Jhr erster Blick ist Blick treffender Wahrheit. Sie ahnden beynahe
alles Gute und Schlechte im Menschen, sobald sie ihn sehen. Jch wollte von ihnen lernen, sie um
Erklärungen bitten, um Anzeige der besondern Züge, die ihnen den Charakter so schnell und so rich-
tig aufgeschlossen, und sie wußten nichts zu sagen. Wie Licht als Licht erfreut, ohne daß man sa-
gen kann, warum es uns wohl macht -- Finsterniß als Finsterniß traurig macht und mißfällt,
ohne daß man Ueberlegungen anstellen, oder Gründe davon angeben muß; so erfreuen und betrü-
ben gewisse Gesichter das physiognomische Genie -- das ist, den, dessen allgemeiner physiognomi-
scher Sinn ungewöhnlich gesund, scharf, reizbar, unschuldig ist -- ohne daß es einen Grund oder
einen besondern Zug bestimmt anzugeben weiß. Freylich alle Fähigkeiten bedürfen zu ihrer Entwi-
ckelung und Zeitigung Veranlassungen und Uebungen. Gewiß dieß Ahndungsvermögen auch. Be-
obachtung wird immer seine beste Nahrung bleiben. Aber wie das Leben der Nahrung vorgeht -- so
das Genie der Beobachtung. Ein großes Maaß lebendigen Sinnes für die Charakteristik der Na-
tur, das man sich nicht geben kann, heiße ich Genie. Jch habe ein sehr geringes Maaß dieses phy-
siognomischen Sinnes, aber durch Uebung und Beobachtung hat er sich schon gar merklich verfeinert
und gesichert -- und seltsam ist, daß es nur gewisse Arten von Gesichtern giebt, deren Charakter ich
sogleich, ohne sie, oder ähnliche vorher auf irgend eine Weise gekannt oder gesehen zu haben, ohne
mir irgend einen Grund angeben zu können, auf den ersten Blick gleichsam divinire, da es mich hin-
gegen viele Mühe kostet, unzählige andere, die weit ungeübtere Physiognomen auf den ersten Blick
kennen, zu entziefern. Jch bin daher nicht ungeneigt zu glauben, daß es für jeden Menschen eine
besondere Art von Gesichtern giebt, für die er ausschließenden Sinn, und zu deren schnellrichtiger
Beurtheilung er eine Art von Monopolium hat.



Viertes
R 3

Phyſiognomiſcher Sinn, Genie, Ahndung.
tungen mittheilbar machen. Aber — als Genie wird es nur ſehen, fuͤhlen, ahnden. Beob-
achten
kann man lernen und lehren jeden, der ſehen kann. Aber nicht jeden, der Augen hat, ſe-
hen lehren — geſchweige den, der keine hat.

Jch kenne phyſiognomiſche Genieen, die nicht die mindeſte Beobachtungsgabe beſitzen, die
nichts vergleichen, nichts ruhig auf alle Seiten wenden, nicht die Charaktere der Dinge ausfinden
und herausheben koͤnnen. Jhr erſter Blick iſt Blick treffender Wahrheit. Sie ahnden beynahe
alles Gute und Schlechte im Menſchen, ſobald ſie ihn ſehen. Jch wollte von ihnen lernen, ſie um
Erklaͤrungen bitten, um Anzeige der beſondern Zuͤge, die ihnen den Charakter ſo ſchnell und ſo rich-
tig aufgeſchloſſen, und ſie wußten nichts zu ſagen. Wie Licht als Licht erfreut, ohne daß man ſa-
gen kann, warum es uns wohl macht — Finſterniß als Finſterniß traurig macht und mißfaͤllt,
ohne daß man Ueberlegungen anſtellen, oder Gruͤnde davon angeben muß; ſo erfreuen und betruͤ-
ben gewiſſe Geſichter das phyſiognomiſche Genie — das iſt, den, deſſen allgemeiner phyſiognomi-
ſcher Sinn ungewoͤhnlich geſund, ſcharf, reizbar, unſchuldig iſt — ohne daß es einen Grund oder
einen beſondern Zug beſtimmt anzugeben weiß. Freylich alle Faͤhigkeiten beduͤrfen zu ihrer Entwi-
ckelung und Zeitigung Veranlaſſungen und Uebungen. Gewiß dieß Ahndungsvermoͤgen auch. Be-
obachtung wird immer ſeine beſte Nahrung bleiben. Aber wie das Leben der Nahrung vorgeht — ſo
das Genie der Beobachtung. Ein großes Maaß lebendigen Sinnes fuͤr die Charakteriſtik der Na-
tur, das man ſich nicht geben kann, heiße ich Genie. Jch habe ein ſehr geringes Maaß dieſes phy-
ſiognomiſchen Sinnes, aber durch Uebung und Beobachtung hat er ſich ſchon gar merklich verfeinert
und geſichert — und ſeltſam iſt, daß es nur gewiſſe Arten von Geſichtern giebt, deren Charakter ich
ſogleich, ohne ſie, oder aͤhnliche vorher auf irgend eine Weiſe gekannt oder geſehen zu haben, ohne
mir irgend einen Grund angeben zu koͤnnen, auf den erſten Blick gleichſam divinire, da es mich hin-
gegen viele Muͤhe koſtet, unzaͤhlige andere, die weit ungeuͤbtere Phyſiognomen auf den erſten Blick
kennen, zu entziefern. Jch bin daher nicht ungeneigt zu glauben, daß es fuͤr jeden Menſchen eine
beſondere Art von Geſichtern giebt, fuͤr die er ausſchließenden Sinn, und zu deren ſchnellrichtiger
Beurtheilung er eine Art von Monopolium hat.



Viertes
R 3
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0163" n="133"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Phy&#x017F;iognomi&#x017F;cher Sinn, Genie, Ahndung.</hi></fw><lb/><hi rendition="#b">tungen</hi> mittheilbar machen. Aber &#x2014; als <hi rendition="#b">Genie</hi> wird es nur &#x017F;ehen, fu&#x0364;hlen, ahnden. <hi rendition="#b">Beob-<lb/>
achten</hi> kann man lernen und lehren jeden, der <hi rendition="#b">&#x017F;ehen</hi> kann. Aber nicht jeden, der Augen hat, &#x017F;e-<lb/>
hen lehren &#x2014; ge&#x017F;chweige den, der keine hat.</p><lb/>
              <p>Jch kenne phy&#x017F;iognomi&#x017F;che Genieen, die nicht die minde&#x017F;te Beobachtungsgabe be&#x017F;itzen, die<lb/>
nichts vergleichen, nichts ruhig auf alle Seiten wenden, nicht die Charaktere der Dinge ausfinden<lb/>
und herausheben ko&#x0364;nnen. Jhr er&#x017F;ter Blick i&#x017F;t Blick treffender Wahrheit. Sie ahnden beynahe<lb/>
alles Gute und Schlechte im Men&#x017F;chen, &#x017F;obald &#x017F;ie ihn &#x017F;ehen. Jch wollte von ihnen lernen, &#x017F;ie um<lb/>
Erkla&#x0364;rungen bitten, um Anzeige der be&#x017F;ondern Zu&#x0364;ge, die ihnen den Charakter &#x017F;o &#x017F;chnell und &#x017F;o rich-<lb/>
tig aufge&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;en, und &#x017F;ie wußten nichts zu &#x017F;agen. Wie Licht als Licht erfreut, ohne daß man &#x017F;a-<lb/>
gen kann, warum es uns wohl macht &#x2014; Fin&#x017F;terniß als Fin&#x017F;terniß traurig macht und mißfa&#x0364;llt,<lb/>
ohne daß man Ueberlegungen an&#x017F;tellen, oder Gru&#x0364;nde davon angeben muß; &#x017F;o erfreuen und betru&#x0364;-<lb/>
ben gewi&#x017F;&#x017F;e Ge&#x017F;ichter das phy&#x017F;iognomi&#x017F;che Genie &#x2014; das i&#x017F;t, den, de&#x017F;&#x017F;en allgemeiner phy&#x017F;iognomi-<lb/>
&#x017F;cher Sinn ungewo&#x0364;hnlich ge&#x017F;und, &#x017F;charf, reizbar, un&#x017F;chuldig i&#x017F;t &#x2014; ohne daß es einen Grund oder<lb/>
einen be&#x017F;ondern Zug be&#x017F;timmt anzugeben weiß. Freylich alle Fa&#x0364;higkeiten bedu&#x0364;rfen zu ihrer Entwi-<lb/>
ckelung und Zeitigung Veranla&#x017F;&#x017F;ungen und Uebungen. Gewiß dieß Ahndungsvermo&#x0364;gen auch. Be-<lb/>
obachtung wird immer &#x017F;eine be&#x017F;te Nahrung bleiben. Aber wie das Leben der Nahrung vorgeht &#x2014; &#x017F;o<lb/>
das Genie der Beobachtung. Ein großes Maaß lebendigen Sinnes fu&#x0364;r die Charakteri&#x017F;tik der Na-<lb/>
tur, das man &#x017F;ich nicht geben kann, heiße ich <hi rendition="#b">Genie.</hi> Jch habe ein &#x017F;ehr geringes Maaß die&#x017F;es phy-<lb/>
&#x017F;iognomi&#x017F;chen Sinnes, aber durch Uebung und Beobachtung hat er &#x017F;ich &#x017F;chon gar merklich verfeinert<lb/>
und ge&#x017F;ichert &#x2014; und &#x017F;elt&#x017F;am i&#x017F;t, daß es nur gewi&#x017F;&#x017F;e Arten von Ge&#x017F;ichtern giebt, deren Charakter ich<lb/>
&#x017F;ogleich, ohne &#x017F;ie, oder a&#x0364;hnliche vorher auf irgend eine Wei&#x017F;e gekannt oder ge&#x017F;ehen zu haben, ohne<lb/>
mir irgend einen Grund angeben zu ko&#x0364;nnen, auf den er&#x017F;ten Blick gleich&#x017F;am divinire, da es mich hin-<lb/>
gegen viele Mu&#x0364;he ko&#x017F;tet, unza&#x0364;hlige andere, die weit ungeu&#x0364;btere Phy&#x017F;iognomen auf den er&#x017F;ten Blick<lb/>
kennen, zu entziefern. Jch bin daher nicht ungeneigt zu glauben, daß es fu&#x0364;r jeden Men&#x017F;chen eine<lb/>
be&#x017F;ondere Art von Ge&#x017F;ichtern giebt, fu&#x0364;r die er aus&#x017F;chließenden Sinn, und zu deren &#x017F;chnellrichtiger<lb/>
Beurtheilung er eine Art von Monopolium hat.</p>
            </div>
          </div><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
          <fw place="bottom" type="sig">R 3</fw>
          <fw place="bottom" type="catch"> <hi rendition="#b">Viertes</hi> </fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[133/0163] Phyſiognomiſcher Sinn, Genie, Ahndung. tungen mittheilbar machen. Aber — als Genie wird es nur ſehen, fuͤhlen, ahnden. Beob- achten kann man lernen und lehren jeden, der ſehen kann. Aber nicht jeden, der Augen hat, ſe- hen lehren — geſchweige den, der keine hat. Jch kenne phyſiognomiſche Genieen, die nicht die mindeſte Beobachtungsgabe beſitzen, die nichts vergleichen, nichts ruhig auf alle Seiten wenden, nicht die Charaktere der Dinge ausfinden und herausheben koͤnnen. Jhr erſter Blick iſt Blick treffender Wahrheit. Sie ahnden beynahe alles Gute und Schlechte im Menſchen, ſobald ſie ihn ſehen. Jch wollte von ihnen lernen, ſie um Erklaͤrungen bitten, um Anzeige der beſondern Zuͤge, die ihnen den Charakter ſo ſchnell und ſo rich- tig aufgeſchloſſen, und ſie wußten nichts zu ſagen. Wie Licht als Licht erfreut, ohne daß man ſa- gen kann, warum es uns wohl macht — Finſterniß als Finſterniß traurig macht und mißfaͤllt, ohne daß man Ueberlegungen anſtellen, oder Gruͤnde davon angeben muß; ſo erfreuen und betruͤ- ben gewiſſe Geſichter das phyſiognomiſche Genie — das iſt, den, deſſen allgemeiner phyſiognomi- ſcher Sinn ungewoͤhnlich geſund, ſcharf, reizbar, unſchuldig iſt — ohne daß es einen Grund oder einen beſondern Zug beſtimmt anzugeben weiß. Freylich alle Faͤhigkeiten beduͤrfen zu ihrer Entwi- ckelung und Zeitigung Veranlaſſungen und Uebungen. Gewiß dieß Ahndungsvermoͤgen auch. Be- obachtung wird immer ſeine beſte Nahrung bleiben. Aber wie das Leben der Nahrung vorgeht — ſo das Genie der Beobachtung. Ein großes Maaß lebendigen Sinnes fuͤr die Charakteriſtik der Na- tur, das man ſich nicht geben kann, heiße ich Genie. Jch habe ein ſehr geringes Maaß dieſes phy- ſiognomiſchen Sinnes, aber durch Uebung und Beobachtung hat er ſich ſchon gar merklich verfeinert und geſichert — und ſeltſam iſt, daß es nur gewiſſe Arten von Geſichtern giebt, deren Charakter ich ſogleich, ohne ſie, oder aͤhnliche vorher auf irgend eine Weiſe gekannt oder geſehen zu haben, ohne mir irgend einen Grund angeben zu koͤnnen, auf den erſten Blick gleichſam divinire, da es mich hin- gegen viele Muͤhe koſtet, unzaͤhlige andere, die weit ungeuͤbtere Phyſiognomen auf den erſten Blick kennen, zu entziefern. Jch bin daher nicht ungeneigt zu glauben, daß es fuͤr jeden Menſchen eine beſondere Art von Geſichtern giebt, fuͤr die er ausſchließenden Sinn, und zu deren ſchnellrichtiger Beurtheilung er eine Art von Monopolium hat. Viertes R 3

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778/163
Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778, S. 133. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778/163>, abgerufen am 21.11.2024.