Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778.

Bild:
<< vorherige Seite

II. Abschnitt. IV. Fragment.
er sich öffnet, und dann die Zähne, wie sie erscheinen -- Könnte ich diese Linie der Lippenöffnung
aus sieben vermischten Gesichtern, wie sie mir aufstoßen, extrahiren -- Jch glaube, ich hätte den
physiognomischen Charakter der Nation des Ortes gefunden. -- Ueberhaupt dürfte ichs fast als
sichere Regel angeben -- Was an einem Orte sechs bis sieben unausgesuchten, von ungefähr
mir aufstoßenden, oder aus dem Hausen herausgegriffenen Menschen gemein ist, ist
mehr oder weniger allen dieses Ortes gemein.

Es kann allerdings Ausnahmen geben -- aber diese Ausnahmen werden selten seyn ...

Nach diesem pflanzte ich mich auf offene Spatziergänge, setzte mich an die Scheidewege der
Straßen -- und harrte, harrte des Unbekannten, Edeln, durch Ruhm und Besichtigung Unverdor-
benen -- der gewiß, gewiß mir begegnen würde -- denn in allen Gegenden der Erde, wo hundert
gemeine Menschen sind, ist auch wenigstens Ein nicht gemeiner -- und wo tausend sind, zehen --
und ich müßte wenig Auge, wenig Sinn haben für die edlere Menschheit, wenig Glauben an die
Fürsehung, die ihre Verehrer sucht -- und durch wen unmittelbarer sucht, als durch redliche Men-
schensucher? -- wenn ich, wo nicht diesen Einen aus hunderten -- doch gewiß Einen aus zehen unter
tausenden fände -- Siehe -- wer sucht, der findet -- Mir ahndet' es nicht umsonst! Er kam --
ich fand ihn -- er geht vor mir vorüber! -- und woran erkenne ich ihn, an jedem Orte? unter je-
dem Bogen des Himmels? unter allen Zungen und Geschlechtern? -- Jch kenne ihn -- entweder
an der gleich einleuchtenden Proportion seiner Gesichtsform -- die obere Gränzlinie der
Stirne, die Augenbraunen, die Basis der Nase, der Mund sind so gleichlaufend, so beym ersten An-
blicke parallel und horizontal! Dann diese runzellose, gedrängte, und doch offne Stirn, diese kräfti-
ge Augenbraune, dieser reine, leicht aufzufassende, leicht nachzuzeichnende Raum zwischen den Au-
genbraunen, der sich über den Rücken der Nase, wie eine Königsstraße vom weit offnen Freyplatz
am Thore -- fortergießt -- dieser geschlossene, doch frey athmende Mund, dieß unhagere und un-
überfleischte Kinn -- dieß tiefere, hell und anziehend leuchtende Auge -- O! wie dieß alles mir
winkt -- ohne mir winken zu wollen! -- Oder: Jch kenne ihn, selbst in der befremdenden Mißge-
stalt
-- auf die der hoch sich bäumende Schönleib lächelnd herabschaut -- Jn der zerdrückten Form
erkenne ich noch die Urform, wie in einem bestäubten Gemählde den großen Meister. O gesegnet sey
mir, unerkannter Edler! Was verachtet ist vor der Welt, hat Gott auserwählt. --

Jch

II. Abſchnitt. IV. Fragment.
er ſich oͤffnet, und dann die Zaͤhne, wie ſie erſcheinen — Koͤnnte ich dieſe Linie der Lippenoͤffnung
aus ſieben vermiſchten Geſichtern, wie ſie mir aufſtoßen, extrahiren — Jch glaube, ich haͤtte den
phyſiognomiſchen Charakter der Nation des Ortes gefunden. — Ueberhaupt duͤrfte ichs faſt als
ſichere Regel angeben — Was an einem Orte ſechs bis ſieben unausgeſuchten, von ungefaͤhr
mir aufſtoßenden, oder aus dem Hauſen herausgegriffenen Menſchen gemein iſt, iſt
mehr oder weniger allen dieſes Ortes gemein.

Es kann allerdings Ausnahmen geben — aber dieſe Ausnahmen werden ſelten ſeyn ...

Nach dieſem pflanzte ich mich auf offene Spatziergaͤnge, ſetzte mich an die Scheidewege der
Straßen — und harrte, harrte des Unbekannten, Edeln, durch Ruhm und Beſichtigung Unverdor-
benen — der gewiß, gewiß mir begegnen wuͤrde — denn in allen Gegenden der Erde, wo hundert
gemeine Menſchen ſind, iſt auch wenigſtens Ein nicht gemeiner — und wo tauſend ſind, zehen
und ich muͤßte wenig Auge, wenig Sinn haben fuͤr die edlere Menſchheit, wenig Glauben an die
Fuͤrſehung, die ihre Verehrer ſucht — und durch wen unmittelbarer ſucht, als durch redliche Men-
ſchenſucher? — wenn ich, wo nicht dieſen Einen aus hunderten — doch gewiß Einen aus zehen unter
tauſenden faͤnde — Siehe — wer ſucht, der findet — Mir ahndet’ es nicht umſonſt! Er kam —
ich fand ihn — er geht vor mir voruͤber! — und woran erkenne ich ihn, an jedem Orte? unter je-
dem Bogen des Himmels? unter allen Zungen und Geſchlechtern? — Jch kenne ihn — entweder
an der gleich einleuchtenden Proportion ſeiner Geſichtsform — die obere Graͤnzlinie der
Stirne, die Augenbraunen, die Baſis der Naſe, der Mund ſind ſo gleichlaufend, ſo beym erſten An-
blicke parallel und horizontal! Dann dieſe runzelloſe, gedraͤngte, und doch offne Stirn, dieſe kraͤfti-
ge Augenbraune, dieſer reine, leicht aufzufaſſende, leicht nachzuzeichnende Raum zwiſchen den Au-
genbraunen, der ſich uͤber den Ruͤcken der Naſe, wie eine Koͤnigsſtraße vom weit offnen Freyplatz
am Thore — fortergießt — dieſer geſchloſſene, doch frey athmende Mund, dieß unhagere und un-
uͤberfleiſchte Kinn — dieß tiefere, hell und anziehend leuchtende Auge — O! wie dieß alles mir
winkt — ohne mir winken zu wollen! — Oder: Jch kenne ihn, ſelbſt in der befremdenden Mißge-
ſtalt
— auf die der hoch ſich baͤumende Schoͤnleib laͤchelnd herabſchaut — Jn der zerdruͤckten Form
erkenne ich noch die Urform, wie in einem beſtaͤubten Gemaͤhlde den großen Meiſter. O geſegnet ſey
mir, unerkannter Edler! Was verachtet iſt vor der Welt, hat Gott auserwaͤhlt.

Jch
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0166" n="136"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b"><hi rendition="#aq">II.</hi> Ab&#x017F;chnitt. <hi rendition="#aq">IV.</hi> Fragment.</hi></fw><lb/>
er &#x017F;ich o&#x0364;ffnet, und dann die <hi rendition="#b">Za&#x0364;hne, wie &#x017F;ie er&#x017F;cheinen</hi> &#x2014; Ko&#x0364;nnte ich die&#x017F;e Linie der Lippeno&#x0364;ffnung<lb/>
aus &#x017F;ieben vermi&#x017F;chten Ge&#x017F;ichtern, wie &#x017F;ie mir auf&#x017F;toßen, extrahiren &#x2014; Jch glaube, ich ha&#x0364;tte den<lb/>
phy&#x017F;iognomi&#x017F;chen Charakter der Nation des Ortes gefunden. &#x2014; Ueberhaupt du&#x0364;rfte ichs fa&#x017F;t als<lb/>
&#x017F;ichere Regel angeben &#x2014; <hi rendition="#b">Was an einem Orte &#x017F;echs bis &#x017F;ieben unausge&#x017F;uchten, von ungefa&#x0364;hr<lb/>
mir auf&#x017F;toßenden, oder aus dem Hau&#x017F;en herausgegriffenen Men&#x017F;chen gemein i&#x017F;t, i&#x017F;t<lb/>
mehr oder weniger allen die&#x017F;es Ortes gemein.</hi></p><lb/>
            <p>Es kann allerdings Ausnahmen geben &#x2014; aber die&#x017F;e Ausnahmen werden &#x017F;elten &#x017F;eyn ...</p><lb/>
            <p>Nach die&#x017F;em pflanzte ich mich auf offene Spatzierga&#x0364;nge, &#x017F;etzte mich an die Scheidewege der<lb/>
Straßen &#x2014; und harrte, harrte des Unbekannten, Edeln, durch Ruhm und Be&#x017F;ichtigung Unverdor-<lb/>
benen &#x2014; der gewiß, gewiß mir begegnen wu&#x0364;rde &#x2014; denn in allen Gegenden der Erde, wo hundert<lb/>
gemeine Men&#x017F;chen &#x017F;ind, i&#x017F;t auch wenig&#x017F;tens <hi rendition="#b">Ein</hi> nicht gemeiner &#x2014; und wo tau&#x017F;end &#x017F;ind, <hi rendition="#b">zehen</hi> &#x2014;<lb/>
und ich mu&#x0364;ßte wenig Auge, wenig Sinn haben fu&#x0364;r die edlere Men&#x017F;chheit, wenig Glauben an die<lb/>
Fu&#x0364;r&#x017F;ehung, die ihre Verehrer &#x017F;ucht &#x2014; und durch wen unmittelbarer &#x017F;ucht, als durch redliche Men-<lb/>
&#x017F;chen&#x017F;ucher? &#x2014; wenn ich, wo nicht die&#x017F;en Einen aus hunderten &#x2014; doch gewiß Einen aus zehen unter<lb/>
tau&#x017F;enden fa&#x0364;nde &#x2014; Siehe &#x2014; <hi rendition="#b">wer &#x017F;ucht, der findet</hi> &#x2014; Mir ahndet&#x2019; es nicht um&#x017F;on&#x017F;t! Er kam &#x2014;<lb/>
ich fand ihn &#x2014; er geht vor mir voru&#x0364;ber! &#x2014; und woran erkenne ich ihn, an jedem Orte? unter je-<lb/>
dem Bogen des Himmels? unter allen Zungen und Ge&#x017F;chlechtern? &#x2014; Jch kenne ihn &#x2014; <hi rendition="#b">entweder</hi><lb/>
an der <hi rendition="#b">gleich einleuchtenden Proportion &#x017F;einer Ge&#x017F;ichtsform</hi> &#x2014; die obere Gra&#x0364;nzlinie der<lb/>
Stirne, die Augenbraunen, die Ba&#x017F;is der Na&#x017F;e, der Mund &#x017F;ind &#x017F;o gleichlaufend, &#x017F;o beym er&#x017F;ten An-<lb/>
blicke parallel und horizontal! Dann die&#x017F;e runzello&#x017F;e, gedra&#x0364;ngte, und doch offne Stirn, die&#x017F;e kra&#x0364;fti-<lb/>
ge Augenbraune, die&#x017F;er reine, leicht aufzufa&#x017F;&#x017F;ende, leicht nachzuzeichnende Raum zwi&#x017F;chen den Au-<lb/>
genbraunen, der &#x017F;ich u&#x0364;ber den Ru&#x0364;cken der Na&#x017F;e, wie eine Ko&#x0364;nigs&#x017F;traße vom weit offnen Freyplatz<lb/>
am Thore &#x2014; fortergießt &#x2014; die&#x017F;er ge&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;ene, doch frey athmende Mund, dieß unhagere und un-<lb/>
u&#x0364;berflei&#x017F;chte Kinn &#x2014; dieß tiefere, hell und anziehend leuchtende Auge &#x2014; O! wie dieß alles mir<lb/>
winkt &#x2014; ohne mir winken zu wollen! &#x2014; <hi rendition="#b">Oder:</hi> Jch kenne ihn, &#x017F;elb&#x017F;t in der befremdenden <hi rendition="#b">Mißge-<lb/>
&#x017F;talt</hi> &#x2014; auf die der hoch &#x017F;ich ba&#x0364;umende Scho&#x0364;nleib la&#x0364;chelnd herab&#x017F;chaut &#x2014; Jn der zerdru&#x0364;ckten Form<lb/>
erkenne ich noch die Urform, wie in einem be&#x017F;ta&#x0364;ubten Gema&#x0364;hlde den großen Mei&#x017F;ter. O ge&#x017F;egnet &#x017F;ey<lb/>
mir, unerkannter Edler! <hi rendition="#b">Was verachtet i&#x017F;t vor der Welt, hat Gott auserwa&#x0364;hlt.</hi> &#x2014;</p><lb/>
            <fw place="bottom" type="catch">Jch</fw><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[136/0166] II. Abſchnitt. IV. Fragment. er ſich oͤffnet, und dann die Zaͤhne, wie ſie erſcheinen — Koͤnnte ich dieſe Linie der Lippenoͤffnung aus ſieben vermiſchten Geſichtern, wie ſie mir aufſtoßen, extrahiren — Jch glaube, ich haͤtte den phyſiognomiſchen Charakter der Nation des Ortes gefunden. — Ueberhaupt duͤrfte ichs faſt als ſichere Regel angeben — Was an einem Orte ſechs bis ſieben unausgeſuchten, von ungefaͤhr mir aufſtoßenden, oder aus dem Hauſen herausgegriffenen Menſchen gemein iſt, iſt mehr oder weniger allen dieſes Ortes gemein. Es kann allerdings Ausnahmen geben — aber dieſe Ausnahmen werden ſelten ſeyn ... Nach dieſem pflanzte ich mich auf offene Spatziergaͤnge, ſetzte mich an die Scheidewege der Straßen — und harrte, harrte des Unbekannten, Edeln, durch Ruhm und Beſichtigung Unverdor- benen — der gewiß, gewiß mir begegnen wuͤrde — denn in allen Gegenden der Erde, wo hundert gemeine Menſchen ſind, iſt auch wenigſtens Ein nicht gemeiner — und wo tauſend ſind, zehen — und ich muͤßte wenig Auge, wenig Sinn haben fuͤr die edlere Menſchheit, wenig Glauben an die Fuͤrſehung, die ihre Verehrer ſucht — und durch wen unmittelbarer ſucht, als durch redliche Men- ſchenſucher? — wenn ich, wo nicht dieſen Einen aus hunderten — doch gewiß Einen aus zehen unter tauſenden faͤnde — Siehe — wer ſucht, der findet — Mir ahndet’ es nicht umſonſt! Er kam — ich fand ihn — er geht vor mir voruͤber! — und woran erkenne ich ihn, an jedem Orte? unter je- dem Bogen des Himmels? unter allen Zungen und Geſchlechtern? — Jch kenne ihn — entweder an der gleich einleuchtenden Proportion ſeiner Geſichtsform — die obere Graͤnzlinie der Stirne, die Augenbraunen, die Baſis der Naſe, der Mund ſind ſo gleichlaufend, ſo beym erſten An- blicke parallel und horizontal! Dann dieſe runzelloſe, gedraͤngte, und doch offne Stirn, dieſe kraͤfti- ge Augenbraune, dieſer reine, leicht aufzufaſſende, leicht nachzuzeichnende Raum zwiſchen den Au- genbraunen, der ſich uͤber den Ruͤcken der Naſe, wie eine Koͤnigsſtraße vom weit offnen Freyplatz am Thore — fortergießt — dieſer geſchloſſene, doch frey athmende Mund, dieß unhagere und un- uͤberfleiſchte Kinn — dieß tiefere, hell und anziehend leuchtende Auge — O! wie dieß alles mir winkt — ohne mir winken zu wollen! — Oder: Jch kenne ihn, ſelbſt in der befremdenden Mißge- ſtalt — auf die der hoch ſich baͤumende Schoͤnleib laͤchelnd herabſchaut — Jn der zerdruͤckten Form erkenne ich noch die Urform, wie in einem beſtaͤubten Gemaͤhlde den großen Meiſter. O geſegnet ſey mir, unerkannter Edler! Was verachtet iſt vor der Welt, hat Gott auserwaͤhlt. — Jch

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778/166
Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778, S. 136. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778/166>, abgerufen am 21.11.2024.